Das Warschauer Ghetto war ein Ort der Angst, aber auch des Widerstandes. Als sich im Verlauf des Jahres 1942 die verschiedenen jüdischen Widerstandsgruppen vereinten und mithilfe polnischer Untergrundkommandos an Waffen gelangten, konnten sie die deutschen Polizeikommandos zwar zurückzudrängen, dennoch wurden mehrere tausend Menschen verschleppt, von denen 1.170 noch im Ghetto hingerichtet wurden. Im April 1943 trafen SS-Einheiten auf noch härteren Widerstand und die bereitgestellten Waggons zur Deportation blieben vorerst leer.
Der heutige Judenstaat hat aus dieser Erfahrung gelernt. Einerseits wurden populäre palästinensische Führer wie Jassir Arafat umgebracht oder wie Marwan Barghuthi weggesperrt, andererseits verhalf Israel selbst der Hamas zur Macht, da diese als berechenbar und propagandistisch zuträglich eingestuft wurden. Wer würde mit einer weiteren Gruppe religiöser Extremisten schon verhandeln oder sie gar zu einer Staatsmacht machen wollen? Dann geschah jedoch, was geschehen musste und Victor Frankenstein verlor die Kontrolle über das von ihm geschaffene Monster.
Währenddessen wurde gewaltfreier Widerstand wie die BDS-Bewegung mit aller Gewalt verhindert, denn die wirtschaftlichen Konsequenzen sind aus Südafrika hinreichend bekannt. Unternehmen wie Apple, die in Israel auf billige und talentierte Informatiker mit oftmals russischen Wurzeln stießen, würden sich schon aus Gründen der Rufschädigung ganz von einem weiteren Apartheidsstaat fernhalten wollen. Es gäbe folglich keine internationale Zusammenarbeit mit den zahlreichen IT-Unternehmen des zionistischen Experiments mehr, von denen dieses nicht nur militärisch, sondern vor allem auch wirtschaftlich profitiert.
Spätestens dann, als durch die Intifada und mit entsprechenden Fernsehbildern überdeutlich wurde, dass hier mit israelischen Kanonen auf palästinensische Spatzen geschossen wird, musste etwas geschehen. Israelische Propaganda nahm so stark zu wie niemals zuvor, von TV-Sendern mit arabischem Telefonsex bis hin zu einem von Israel diktierten Neusprech in all jenen Ländern, von denen man sich Ärger versprach. Junge arabische Männer sollten keine Steine mehr werfen, sondern verführerischen Stimmen unterworfen werden. Junge Deutsche und andere Europäer sollten nicht mehr gegen Israel auf die Straße ziehen können, ohne des Antisemitismus bezichtigt zu werden, worunter fortan nur noch Judenhass verstanden werden sollte.
Ein paar Jahrzehnte und endlose Propagandamillionensummen später trugen einige der Aktionen Früchte. Nicht der Apartheidsstaat Israel, sondern seine Opfer gelten im Wertewesten fortan als Täter. Aus dem Widerstand der Palästinenser gegen die permanente Enteignung, Besatzung, Ausgrenzung und Gewalt durch Israel wurde blinder Terrorismus. Aus dem Staatsterror Israels wurde das Recht auf Selbstverteidigung. Mittlerweile kann der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach, über dessen Vorfahren in Nazideutschland nichts bekannt ist, gar behaupten, die Hamas wären schlimmer als die SS. Nur ist Deutschland und alleine Deutschland für den Holocaust verantwortlich.
Gerne sieht Deutschland die Palästinenser als Sündenbock, um von seinen eigenen Taten abzulenken. Wut darüber, dass der koloniale Westen, insbesondere Deutschland und die USA, als Verursacher all dieser Katastrophen aus perfiden geostrategischen Gründen die Täter mit einer Opferrolle versehen und die Opfer zu Tätern gemacht hat, führte zu der jetzigen Situation, in welcher sich Israel auszumalen scheint, mit Bomben ein Allheilmittel zu besitzen.
Ein Allheilmittel gegen die Folgen von über 75 Jahren Besatzung, ein Allheilmittel gegen die zunehmende internationale Ächtung, ein Allheilmittel gegen die nicht mehr zu verleugende innere Zerrissenheit. Ein Allheilmittel auch zum Gang über den Jordan? Kann der Bombenterror eines rachsüchtigen Staates der Pax Americana im Nahen Osten und dem Iran zum Sieg verhelfen oder ist es ihr letztes Aufbäumen?
Was bislang mit keinem der Kriege der USA funktioniert hat, wird auch durch zĂĽgellosen Zionismus nicht besser. Die Welt wird sich dem so genannten Westen nicht unterwerfen und die Konsequenzen werden teuer bis unbezahlbar sein. FĂĽr Israel, fĂĽr die USA und fĂĽr Europa.
Für Israelis heißt dies bereits jetzt, dass die Zeit sorgloser Ausflüge nach Ägypten oder Jordanien vorbei ist. Auch in anderen Ländern dürften sich israelische Staatsangehörige und Juden, die ihre Religion zur Schau stellen, kaum mehr sicher fühlen. Billige palästinensische Arbeitskräfte fallen ebenso weg, billige Inder sollen als Ersatz herhalten. Dramatisch werden zudem die Ausfälle im Bereich Tourismus und Handel sein, denn Sicherheit wird es in Israel weder für das eine noch das andere mehr geben. Die über drei Jahre hinweg mühsam ausgehandelten Abraham-Abkommen mit Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Marokko und dem Sudan werden kaum überleben.
Das System Netanjahu setzt auf das Recht des Stärkeren. Israel jedoch ist nicht das mächtigste Land der Welt und ob die USA dem zionistischen Blutrausch lange folgen werden, ist angesichts der gesellschaftlichen Zerwürfnisse und anstehenden Wahlen im Land des Sternenbanners unwahrscheinlich. Ebenso wie Russland und China dürfte sich auch Arabien kaum ruinieren lassen – erst recht nicht alle drei zusammen. Die Bevölkerungen Russlands (etwa 147 Millionen Einwohner), der arabischen Region (456 Millionen Einwohner) und Chinas (1,4 Milliarden Einwohner) ergeben zusammen deutlich über zwei Milliarden Menschen, mit welchen sich der Wertewesten dann weitgehend sinn- und aussichtslos im Krieg befände.
Da Israel außer blinder Wut und regionalem Imperialismus kaum über dauerhafte Strategien verfügt, wird es auch eine Zeit nach der Hinrichtung der gesamten israelischen Nachbarschaft geben, wozu vor allem Europa und die USA zur Kasse gebeten werden. Der menschliche Schaden aber ist und bleibt unbezahlbar. Die Überlebenden Palästinas werden ihre Erlebnisse an weitere Generationen übermitteln und die Früchte des Zorns werden jene ernten, deren Vorfahren den Hass gesät haben. Die Zeit der Feste ist vorbei, nichts im Israel 75 Jahre nach seiner Gründung ist mehr normal, die Aussichten sind düster.
David Andel