GERD ist nicht etwa der Kosename des bundesrepublikanischen Ex-Schröders, sondern die Abkürzung für „Grand Ethiopian Renaissance Dam“ (Talsperre der großen äthiopischen Wiedergeburt) und hat das Zeug dazu, im Sudan wie in Ägypten für eine Menge Ärger zu sorgen. Noch verlaufen die Verhandlungen um das Großbauwerk friedlich und noch ist es nicht in voller Nutzung. Das mag sich aber bald ändern – mit allen Konsequenzen.
Die Geschichte um Staudämme auf der ganzen Welt ist eine Ansammlung waghalsiger Abenteuer, menschlicher Dramen, politischer Intrigen, gewaltiger Katastrophen und beispielloser Verantwortungslosigkeit. Kaum ein anderes Bauwerk ist in derart viele befremdliche Ereignisse verwickelt, obgleich die Konstruktion an sich nichts anderes als eine Methode zu relativ umweltfreundlicher Energiegewinnung oder besserer Lenkung der Bewässerung sein sollte.
Die Probleme um die Errichtung dieser Bauwerke sind jedoch vielfältiger Natur und reichen von der Enteignung großer Siedlungen bis hin zur völligen Überflutung ganzer Ortschaften. Im Kriegsfall sind Talsperren meist Objekt der Begierde zur großflächigen Zerstörung feindlicher industrieller Infrastrukturen. Generell drohen sie vertraute Wasserwege versiegen zu lassen und werden daher oftmals erst Generationen später von einer Gesellschaft akzeptiert, die die Geburtswehen solcher Großprojekte pharaonischen Ausmaßes nicht direkt ertragen musste.
Wer sich an Mulholland Drive, das überaus skurrile filmische Meisterwerk von David Lynch erinnert, denkt dabei noch am allerwenigsten an den irischen Namensgeber William Mulholland, obgleich dieser in der Wirklichkeit direkt verantwortlich für zahlreiche Todesopfer war und es daher fast ein Wunder ist, dass eine Straße nach ihm benannt wurde. An fraglicher Adresse wohnten einst Hollywood-Größen wie Warren Beatty, Marlon Brando oder Jack Nicholson und interessierten sich vermutlich herzlich wenig für die Geschichte ihres Wohnortes. Wasserbauingenieur Mulholland war ein eher überschätzter denn talentierter Autodidakt und ging buchstäblich über Leichen, um die Wasserversorgung von Los Angeles zu gewährleisten, was zum Teil wiederum filmisches Sujet von Roman Polanskis Chinatown wurde.
Nicht nur die zwielichtigen Methoden, unter denen sich die in einer halbtrockenen Klimazone gelegenen Stadt Los Angeles ihr Wasser besorgte, sondern auch die dubiose Kompetenz des selbsterklärten Ingenieurs Mulholland wissen zu beeindrucken. Als die St.-Francis-Talsperre schließlich in Teile zerfiel, überflutete eine 30 Meter hohe Welle mit einer Geschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde alles, was ihr im Wege stand, begrub eine ganze Kleinstadt in Schlamm, 450 Menschen kamen dabei zu Tode.
Deutschland kennt die katastrophalen Folgen von Staudämmen nicht minder. Im Zweiten Weltkrieg diente die britische Operation Chastise (Züchtigung) der Zerstörung der Eder- und Möhnetalsperre mittels eigens konzipierter Hüpfbomben, was bis zu 2.400 Menschenleben forderte und wiederum fürs Kino umgesetzt wurde. Im wenig sehenswerten und vor Pathos nur so triefenden britischen Streifen The Dam Busters rückt ein überfahrener Hund derart in den Mittelpunkt, dass ein kleiner Dammbruch kaum mehr ins Gewicht zu fallen scheint.
In jüngerer Zeit erreichte die Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Rahmen der ukrainischen NATO-Erweiterungsposse die medial-propagandistische Aufmerksamkeit. 18,2 Milliarden Kubikmeter Wasser sorgten für großflächige Schäden bei fragwürdigen militärischen Vorteilen. Wenn es denn irgendwas über einen Staudamm zu sagen gibt, dann wohl, dass er im Bedarfsfall leicht zu zerstören ist.
Ägypten ist ohne den Nil nicht überlebensfähig, 95 Prozent der heutigen Bevölkerung leben entlang der unverzichtbaren Lebensader. Ohne den Fluss wäre die Region nichts anderes als eine Wüstenlandschaft, knapp doppelt so groß wie Spanien und völlig unbekannt, noch nicht einmal eine Nation. Vielleicht ein Naturparadies, vielleicht ein riesengroßer Badestrand, vielleicht sogar das Land ohne Volk für das Volk ohne Land. Weder gäbe es Pharaonen und deren Obelisken, Pyramiden und Tempel.
Einer der ältesten Staudämme der Welt ist der vor über 4.500 Jahren errichtete Sadd al-Kafara nahe Kairo. Wie wichtig der Nil für Ägypten ist, lässt sich am Projekt des Assuan-Staudamms erkennen. Ein Damm, der abermals die Zerstörung ganzer Ortschaften einforderte. Nach zehn Jahren Bauzeit gab es am 21. Juli 1970 nicht nur 451 Todesopfer zu beklagen, sondern zudem die Verlegung mehrerer Kulturdenkmäler, von denen Abu Simbel das bekannteste ist. Zwischen November 1963 und September 1968 wurde das Monument von ägyptischen, deutschen, französischen, italienischen und schwedischen Baufirmen unter Anleitung des Baukonzerns Hochtief auf einen 65 Meter höheren und 200 Meter weiter vom Nil entfernt gelegenen Ort verlegt. Der Aufwand dazu war gewaltig.

Aber das war längst nicht alles. Der Tempel von Debod zog nach Madrid um, der von Dendur nach New York, der von Taphis ins niederländische Leiden, der von Ellesija nach Turin und die Tempel von Ramses II. in Akscha, von Hatshepsut in Buhen, Chnum in Kumma, Dedun und Sesostris III. in Semna, die Grabkammer des nubischen Prinzen Djehutihotep in Dibeira, die Granitsäulen und einige Wandmalereien der Kathedrale von Faras wanderten allesamt ins Nationalmuseum Sudan in Khartum. Der Assuan-Staudamm war ein Jahrhundertprojekt Nassers, das auf die am 10. Dezember 1902 von den Briten entworfene Assuan-Staumauer folgte und die weltweit bereits die größte ihrer Art war. Der vom Vater des Verfassers wenig charmant als Nildiktator bezeichnete Nasser wurde seinem Namen gerecht, ließ das gewaltige Industriedenkmal errichten und sorgte fortan für eine verbesserte Bewässerung der ägyptischen Landwirtschaft.
Hier laufen alle politischen, sozialen und militärischen Schlachten der Ägypter zusammen. In Zukunft stauen gewaltige Steinbrocken den Nil. Wir speichern sein Wasser im größten Stausee aller Zeiten und machen ihn zu einer Quelle dauerhaften Wohlstands.
Gamal Abdel Nasser zum Bau des Assuan-Staudamms (1963)
Für Ägypten ist es nun eine völlig neue und schmerzhafte Erfahrung, dass plötzlich ein anderes Land als das stets mit dem Nil assoziierte das Wasser des ägyptischsten aller Flüsse für seine Zwecke verwenden könnte. Seit gut zehn Jahren hängt der Haussegen zwischen Ägypten und Äthiopien schief. Und obgleich der Nil lediglich von Ägypten aus ins Meer mündet und nicht etwa dort entspringt, sieht sich die stärkste Regionalmacht unter den Anrainerstaaten als Haupteigentümer des größten Wasserweges der Welt, der über 300 Millionen Menschen mit Wasser versorgt.
Niemand darf Ägypten auch nur einen Tropfen Wasser abnehmen. Sollte dies dennoch geschehen, wird es zu einer unvorstellbaren Instabilität in der Region kommen.
der ägyptische Präsident Abd al-Fattah as-Sisi am 30. März 2021
Der Nil hat zwei Quellflüsse. Der so genannte Weiße Nil entspringt in den Hochlagen von Burundi, Ruanda und Tansania, durchläuft den Victoriasee in Uganda, gilt als Quelle des Victoria-Nils und verläuft dann weiter in den Südsudan, um sich bei Khartum im Sudan mit dem wesentlich wasserreicheren Blauen Nil, der im äthiopischen Gish Abay als Gilgel Abay (Kleiner Abbai) im Westen des Landes entspringt, zum Nil zu vereinen.

GERD ist zweieinhalb mal kleiner als der Assuan-Staudamm, vierzig Kilometer von der sudanesischen Grenze entfernt und erzeugt seit knapp drei Jahren Strom, allerdings sind neun der dreizehn Turbinen noch nicht installiert. Die ersten beiden Turbinen wurden im Februar 2022 und die neuesten im August 2024 in Betrieb genommen. Vergangenen Monat war die Einrichtung von drei weiteren Turbinen vorgesehen, die Lieferung durch den chinesischen Hersteller blieb bis zum heutigen Tag aber aus. Die Gesamtleistung von GERD soll im Endausbau in der Lage sein sein, jährlich 15.760 GWh (Gigawattstunden) Strom zu erzeugen, eine Zahl, die mit Skepsis zu betrachten ist. So fiel die Stromproduktion den gesamten Herbst 2024 über aus, da das Wasser des Blauen Nils durch die oberen Fluttore des Damms trat.
Der Wasserzufluss aus dem Blauen Nil beträgt etwa 50 Millionen Kubikmeter täglich, was zum zwölfstündigen Betrieb von zwei Turbinen ausreicht. Bei längerem Betrieb ist die Nutzung von gespeichertem Wasser erforderlich, dessen Stand seit dem Ende der Hochwassersaison am 5. September stabil bei 60 Milliarden Kubikmetern liegt. Das bis jetzt spärlich und unzuverlässig produzierte Kontingent kommt jedoch nicht der äthiopischen Bevölkerung zugute, sondern wird aus wirtschaftlichen Gründen in den Sudan, nach Dschibuti und Kenia exportiert.
Währenddessen haben zwei Drittel der Äthiopier keinen Zugang zu Strom, da es die dazu nötige Infrastruktur noch nicht gibt. So läuft die Stromproduktion von GERD für die meisten Äthiopier ins Leere. Strom dient nicht nur der öffentlichen Beleuchtung zwecks Erhöhung der Sicherheit von Wohnvierteln, sondern auch der Möglichkeit, im Dunkeln lesen und sich somit fortbilden zu können. Strom ist ebenso zum Frischhalten von Nahrungsmitteln oder der Kühlung und Heizung von Lebensraum sinnvoll. Zu guter Letzt ist Strom wesentliche Voraussetzung für moderne Kommunikation: ohne ihn kein Fernsehen, Internet und auch keine Smartphones.

Der Kampf um Wasser und Strom ist allerdings schmutzig. So wurde der Projektleiter des Staudamms, der Ingenieur Simegnew Bekele, am 26. Juli 2018 in seinem Wagen auf dem Meskel-Platz in Addis Abeba tot aufgefunden, offiziell Selbstmord. Und obgleich die unerwartet hohen Regenfälle in Äthiopien bis dato zu keiner Wasserverknappung des Nils in Ägypten führten, steht Kairo mit seiner Armee weiterhin Gewehr bei Fuß. Die Militärmanöver Adler 1, Adler 2 und Wächter des Nils dienten zur unmissverständlichen Demonstration der militärischen Vormachtstellung Ägyptens. So ist mutmaßlich ein Angriff Äthiopiens vom Flughafen der sudanesischen Stadt Merowe aus vorgesehen, auf dem Ägypten einen Stützpunkt seiner Luftwaffe betreibt.
Ägypten überwacht misstrauisch jeden weiteren Schritt Äthiopiens und zögert auch vor politischer Einmischung nicht. Der fragile innenpolitische Frieden im Land ist von der Zentralregierung in Addis Abeba nur mit Mühe zu aufrecht zu halten. Seit 2020 wurde der Staudamm in fünf Phasen ohne Absprache mit Ägypten gefüllt, obgleich die vorige Übermittlung von Daten zugesagt war. Über ein Jahrzehnt trilateraler Verhandlungen, während dem sich Ägypten und der Sudan um ein rechtsverbindliches Abkommen über die Befüllung und den Betrieb des Staudamms bemüht haben, das die Sicherheit der ägyptischen wie sudanesischen Wasserversorgung und Staudämme gewährleistet, hat zu keiner Einigung geführt, sodass seit Dezember 2023 die Verhandlungen auf Eis liegen.
Das weltweit erste Wasserabkommen vom 8. November 1959 zwischen Ägypten und dem Sudan sah die weitgehende Kontrolle des Nils durch Ägypten vor, das unterentwickelte Äthiopien fand darin noch keine Erwähnung. Ägypten wird in genannter Vereinbarung ein Vetorecht zur Genehmigung jedes Staudamms, jeder Pumpstation oder größeren Bewässerungsanlage am Nil zugesichert. Das ausgehandelte Papier sah für den Sudan die Nutzung von 18,5 und für Ägypten 55,5 Milliarden Kubikmeter Wasser vor. 65 Jahre später planen aber sowohl der Sudan als auch Uganda die Errichtung neuer Talsperren, sodass mit fortwährenden Spannungen über jene mit Äthiopien hinaus zu rechnen ist.
Während Ägypten auf Einhaltung des Vertrages von 1959 besteht, haben Äthiopien, Burundi, Kenia, Ruanda und Tansania nach langjährigen Verhandlungen mit dem Cooperative Framework Agreement im Rahmen der Nilbeckeninitiative (NBI) ein von Kairo unabhängiges Abkommen geschlossen, welches das bilaterale zwischen Kairo und Karthum hinfällig machen soll. Ägypten ist zwar auch NBI-Mitglied, lehnt die ausgeweiteten Rechte der anderen Nil-Anrainerstaaten aber ab.
Besagtes Rahmenabkommen wurde zunächst weder von Ägypten noch dem Sudan akzeptiert, 2024 jedoch von der seit dem 9. Juli 2011 vom Sudan losgelösten Republik Südsudan ratifiziert. Unbestritten ist, dass auch der Sudan nicht nur von der Stromerzeugung des äthiopischen Bauwerks, sondern darüberhinaus von der Tatsache profitiert, dass der Pegel bei Hochwasser nicht mehr um acht Meter, sondern nur noch um zwei Meter steigt.
Ägypten geht indessen davon aus, dass es sich rechtlich abgesichert im Rahmen von Kapitel 6 der UN-Charta, in dem zur „friedlichen Beilegung von Streitigkeiten“ aufgerufen wird, des Völkerrechts, der 2015 in Khartum unterzeichneten dreiseitigen Grundsatzerklärung und des so genannten Mubarak-Zenawi-Abkommens aus dem Jahr 1993, in dem festgelegt ist, dass Äthiopien vor der Durchführung von Projekten am Nil die Zustimmung Ägyptens einholen muss, verhält.
Sollte dieser Ansatz jedoch scheitern, wird Ägypten den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UNSC) darauf hinweisen müssen, dass die Nichtlösung des GERD-Dossiers eine Bedrohung für den Frieden darstellt, und die Vereinten Nationen auffordern, gemäß Kapitel 7 tätig zu werden, das Maßnahmen als Reaktion auf eine Bedrohung des Friedens, einschließlich des in Artikel 51 verankerten Rechts auf Selbstverteidigung, vorsieht.
Salah Halima, ehemaliger Stellvertreter des ägyptischen Außenministers, am 27. Dezember 2024 über die aktuelle Situation in Sachen GERD
Berechnungen zufolge soll das 100-Millionen-Land bedingt durch den fortwährenden Bevölkerungszuwachs im kommenden Jahrfünft um weitere dreißig Millionen Menschen zunehmen. Und während 1970 noch auf jeden Ägypter 1.672 Kubikmeter Wasser kamen, werden es bis dahin noch nicht einmal mehr 500 Kubikmeter sein, was den Vereinten Nationen zufolge einer „absoluten“ Wasserknappheit entspricht.

Sollte das GERD-Projekt wie geplant bis 2028 fertiggestellt werden, könnte sich die in Ägypten ankommende Wassermenge des Nils um 25 Prozent reduzieren, was eine Verringerung der Stromproduktion um bis zu ein Drittel zur Folge hätte. Wenn das Wasser, das nach Ägypten kommt, nur um zwei Prozent reduziert wird, gingen etwa 81.000 Hektar Land und somit die Lebensgrundlage für ungefähr 200.000 fünfköpfige Familien verloren, so der ehemalige Minister für Wasserressourcen, Muhammad Abdel Aty, in einem BBC-Interview im Februar 2018.
Infolgedessen hat Ägypten mehrere Projekte zur Gewinnung von Grundwasser sowie der Wiederverwendung und Aufbereitung von Abwasser umgesetzt. 2022 wurde die im Sinai südlich von Port Said gelegene Kläranlage Bahr al-Baqar eröffnet, eine der größten der Welt. Neben Plänen zum Bau einer Reihe von Entsalzungsanlagen wurde im Oktober 2022 auch das Vorhaben zur Betonauskleidung des Nationalkanals in Angriff genommen. Die Gesamtkosten dafür liegen bislang im Bereich von knapp einer Milliarde Euro (50 Milliarden ägyptische Pfund).
Wie in Europa werden auch in Ägypten landwirtschaftliche Großprojekte wie Canal Sugar in Mynia bevorzugt gefördert, wohingegen Kleinbauern zunehmenden Restriktionen ausgesetzt sind. Reisbauern, die für ihre Felder eine vorgegebene Wassermenge überschreiten, drohen Geld- und Haftstrafen. Die Anbaufläche für Reis wurde zwischenzeitlich um eine Million Hektar verringert.
Jeder Ägypter scheint zu GERD eine Meinung zu haben. Wer auf der Straße, in Cafés oder Hotels die Frage stellt, ob es aufgrund von GERD einen Krieg geben könnte, erhält meist die Antwort „Ganz sicher sogar!“, „Natürlich!“ oder „Absolut!“. Staudämme haben das historische Talent, für Ärger zu sorgen. So auch in Ägypten. Und Äthiopien kann mit GERD so ziemlich machen, was es will – nichts Gutes wird daraus werden, solange Kairo sich bedroht fühlt.
David Andel