Uri Avnery

Uri Avnery ist tot, wird unsterblich

Seine treuen Leser fĂŒrchteten schon das Schlimmste, denn seit zwei Wochen war von ihm nichts mehr zu vernehmen. Es blieb still um den bis ins hohe Alter aktiven journalistischen Rebell im Optimistenpelz, der wie ein echter Jecke allwöchentlich freitags einen keineswegs kurzen Artikel zum ungeschönten Stand der Dinge Israels ablieferte. Die letzten beiden Freitage blieben die Veröffentlichungen des immer alles verstehenden und erklĂ€renden Uri Avnery jedoch aus. Heute frĂŒh kam die traurige Nachricht, dass der Chronist, Friedensaktivist und Politiker drei Wochen vor seinem 95. Geburtstag in einem Krankenhaus in Tel Aviv den Folgen eines schweren Herzinfarktes erlag. Unmittelbar nach Beendigung seines letzten Beitrages zum neuen „Nationalstaatsgesetz“ und vor der Teilnahme an einer Demonstration dagegen brach er zusammen.

Der am 10. September 1923 im verschlafenen nordrhein-westfĂ€lischen StĂ€dtchen Beckum (er war zweifellos bekanntester Sohn der Stadt) als Helmut Ostermann geborene Israeli hĂ€tte das unfassbar abenteuerliche Leben, das er spĂ€ter einmal fĂŒhren sollte, ganz bestimmt nicht erwartet. Der Spross einer bĂŒrgerlichen und nichtreligiösen Familie floh im November 1933 mit seinen Eltern und drei Geschwistern aus Hitler-Deutschland nach PalĂ€stina, seine Mutter war damals 39, sein Vater 45 Jahre alt. 1938 trat er der seitens der britischen Mandatsmacht als terroristische Vereinigung eingestuften Untergrundorganisation Etzel (Irgun Zwai Leumi) bei, wurde als israelischer Soldat im PalĂ€stinakrieg von 1948 schwer verletzt, war Herausgeber des Nachrichtenmagazins HaOlam Haseh sowie GrĂŒnder einer gleichnamigen Partei und wurde schließlich mahnendes journalistisches Gewissen, das ApartheidsgelĂŒste, Machtphantasien und grĂ¶ĂŸenwahnsinnige Aggressionen genau des Landes anzuprangern suchte, an dessen GrĂŒndung er selbst einst mit Waffengewalt beteiligt war.

Avnery begrĂŒndete somit nicht nur gerade jenen kritischen, vor allem aber furchtlosen Journalismus, den das rechtsradikal-religiöse Netanjahu-Regime mit den Milliarden des Sheldon Adelson nun schon seit Jahren mit aller Gewalt zu vernichten sucht. Er kannte zudem genau die Politiker oftmals viel zu persönlich, die aus seinem Heimatland ein militĂ€risches Marionettentheater zu machen suchten, das zwar seine Puppenspieler fĂŒrstlich entlohnen wĂŒrde, in welchem Zuschauer aber nur noch Platz fĂ€nden, so sie zu bedingungslosem Beifall auf Abruf bereit wĂ€ren.

Ich bin ein Optimist; sie war eine Pessimistin. In jeder Situation sah ich positive Chancen; sie sah die Gefahren.

Uri Avnery ĂŒber seine am 21. Mai 2011 verstorbene Frau Rachel

Den durchschnittlichen Israeli der letzten Jahrzehnte plagen keinerlei Selbstzweifel mehr. Er ignoriert den Schmerz der LandesgrĂŒndung geflissentlich, bedient sich sorgfĂ€ltig anerzogener Scheuklappen zum Tunnelblick auf eigene Vorteile. Sein Land ist bis an die ZĂ€hne mit nuklearen Sprengkörpern, Drohnen oder gar subventionierten deutschen U-Booten bewaffnet, lenkt gewaltsam die Geschicke einer ganzen Region. Er wĂ€chst im festen Glauben auf, dass man keinem PalĂ€stinenser wirklich trauen kann, alle Nachbarn seine Feinde sind und iranische Mullahs nur darauf warten, das gelobte Land, in welchem schließlich Milch und Honig fließen, dem Erdboden gleich zu machen. Trennung von Staat und Religion sind fĂŒr ihn unvorstellbar, religiöse Spinner in Bnei Brak und Mea Schearim liebenswerte Traditionalisten und seine Armee unabdingbarer Garant staatlichen Zusammenhaltes. Wer in einem solchen Umfeld Kritik ĂŒbt, muss sich auf einiges gefasst machen – und genau das war die grĂ¶ĂŸte StĂ€rke Uri Avnerys.

Avnery war zwar immer ĂŒberzeugter Israeli, erlag aber nie dem patriotischen Suff seiner Landsleute in einem Staat, der heute fĂŒr nichts anderes als einen noch nicht einmal ansatzweise kalten Dauerkrieg steht und seit Jahrzehnten die erfolgreiche systematische LĂŒge von Provokation statt Reaktion als Mittel zur Rechtfertigung von immer mehr Gewalt und Landnahme mit einer Leidenschaft betreibt, die derart nur aus notorischen Unrechtsregimen bekannt ist, von denen sich der zionistische Staat zwar angeblich fundamental unterscheiden möchte, woran er aber so offenkundig scheitert.

Meinem Sohn Uri, der zu einem Besuch des Mörders Jassir Arafat aufbrach, anstelle sich um mich zu kĂŒmmern, hinterlasse ich keinen Pfennig.

Aus dem Testament von Hilda Ostermann, Uri Avnerys Mutter

Seine Feinde sahen ihn als ewigen Nestbeschmutzer, weltfremden Optimisten oder schlimmstenfalls Hofnarren. Dennoch begegnete er allen, die ihn ewig kritisierten, hassten oder einfach nur verachteten mit einer frappanten Engelsgeduld. Er verachtete keineswegs, sondern versuchte BrĂŒcken zu schlagen, MissverstĂ€ndnisse wie Vorurteile abzubauen. Er erklĂ€rte all denen, die es hören wollten, die geschichtlichen, kulturellen wie politischen ZusammenhĂ€nge, die ehemals Hass sĂ€ten und Kriege verursachten und bis zum heutigen Tage Quelle von Feindseligkeiten sind. Zu seinen endlosen BemĂŒhungen um einen arabisch-israelischen Frieden gehörte auch, dass er trotz drohender Inhaftierung immer wieder mit Jassir Arafat sprach oder dass er 1993 in hebrĂ€ischer Sprache einen Vortrag vor den schwarzbĂ€rtigen Mitgliedern der Hamas hielt.

Seinen Freunden und AnhĂ€ngern gab er stets zuverlĂ€ssig den notwendigen Halt in einem schmerzvoll unverstĂ€ndlich gewordenen politischen und gesellschaftlichen Leben. Wie Avnery all das mit Optimismus durchhielt, ist unmöglich zu verstehen. Wie er nach unzĂ€hligen Toten vor allem auf palĂ€stinensischer Seite immer noch auf Frieden hoffen konnte, bleibt sein Geheimnis. Und obgleich er sich unermĂŒdlich seinem Publikum gegenĂŒber erklĂ€rte, blieb die Quelle seiner zuversichtlichen Ausdauer doch höchst unerklĂ€rlich. Die von ihm 1993 gegrĂŒndete Friedensorganisation Gusch Schalom ist heute schwĂ€cher denn je, lĂ€ngst setzen die politischen Falken Israels PalĂ€stinenser mit Bulldozern, logistischem Terror oder alltĂ€glich gewordener Waffengewalt vor vollendete Tatsachen. Und die Welt schaut zu.

Wir mĂŒssen entscheiden, wer wir sind, was wir wollen und wohin wir gehören. Tun wir das nicht, ist unser Staat zur UnbestĂ€ndigkeit verdammt.

Uri Avnerys letzter veröffentlichter Satz vom 4. August 2018

Menschen wie Uri Avnery oder auch Abie Nathan („Voice Of Peace“) werden aber jene sein, die die moralischen Werte eines Israels der Zukunft (so es eine hat) definieren und keineswegs PhĂ€nomene wie Netanjahu samt seiner furchterregend einfĂ€ltigen Schreckensbande. Und obgleich es in Augenblicken wie diesen unertrĂ€glich sein mag, dass Avnerys Altersgenosse Henry Kissinger (auf dessen Tod so manche warten dĂŒrften) ihn ĂŒberlebt, darf daraus keine entmutigende Schlussfolgerung gezogen werden. Der Publizist Uri Avnery erlebt zwar jenen Frieden, fĂŒr den er Zeit seines Lebens kĂ€mpfte, nun nicht mehr, bleibt jedoch Leitfigur fĂŒr das Hoffnungsprinzip einer besseren und lebenswerteren Welt, wohingegen die Mehrzahl ordinĂ€r-bellizistischer Politiker wie Journalisten nur mehr auf verlorenem Posten ein bankrottes wie verrottetes System vergangener Zeiten verteidigen.

Es wĂ€re sinnlos, jemanden wie Uri Avnery in nur wenige Worte fassen zu wollen, da er ja alles, was ĂŒber ihn zu sagen wĂ€re, lĂ€ngst selbst und am allerbesten zum Ausdruck gebracht hat. Als eingefleischter Journalist hĂ€tte er natĂŒrlich seinen eigenen Nachruf verfasst haben mĂŒssen – aber er war nun einmal ein unverbesserlicher Optimist. Daher der Hinweis, dass zahlreiche seiner BeitrĂ€ge unter anderem in englischer und deutscher Sprache frei verfĂŒgbar im Internet zu finden sind und sich um so vieles besser als eine Erinnerung an den nun nicht mehr unter uns weilenden Menschen eignen als die endlosen Worte derjenigen, die fortan auf ihn folgen, die aber niemals seinem Mut, seinem Wissen, seiner GĂŒte und seiner Weisheit gerecht werden könnten. In der Tat ist das, was vom Nahostjournalismus ĂŒbrig bleibt, kaum mehr lesenswert. Mit Uri Avnery ist am heutigen Montag frĂŒh fĂŒr viele ein großes StĂŒck dessen gestorben, was Israel einst ausmachte und was aus aus diesem Land mit mehr Courage und vor allem mehr Intelligenz hĂ€tte werden können.

Als seine 1932 in Berlin geborene Frau Rachel am 21. Mai 2011 verstarb, zitierte Uri Avnery das deutsche Sprichwort „Seid nicht traurig, dass sie von uns ging, freut euch, dass wir so lange mit ihr zusammenleben durften.“ Und ja, wir freuen uns, dass wir so lange auf die weisen Worte Uri Avnerys hören durften, werden ĂŒber seinen Tod aber dennoch unendlich traurig sein.

David Andel