Als die SZ im Nachruf auf Dave Brubeck schrieb, er wäre Schöpfer von „Take Five“, drehte sich Paul Desmond vermutlich gleich fünfmal im Grab herum. Desmond, der heute vor hundert Jahren das Licht der Welt erblickte, wurde mit „Take Five“ (Nimm Fünf) zwar unsterblich, trat aber schon nach fünf Jahrzehnten vom Leben ab.
Desmond, der eigentlich Paul Emil Breitenfeld hieß, war der Sohn von Shirley King und Emil Aron Breitenfeld, dessen Vater Sigmund noch aus dem böhmischen Kamnitz stammte und Arzt war. Die Breitenfelds waren zwar Juden, nur erschien ihnen dies offenkundig als eher nebensächlich, da sie weder jüdischen Traditionen nachgingen noch sich dem Judentum zuordneten. Spätestens die Hochzeit von Emil Aron mit der irisch-stämmigen Katholikin Shirley beendete dann den jüdischen Familienverlauf.
Das Interesse Desmonds für Musik kam nicht von ungefähr, da sein Vater Emil Aron hauptberuflich nicht nur Stummfilm-, Vaudeville- und Theateraufführungen musikalisch begleitete, sondern diese auch komponierte und arrangierte. Selbst ein Marschlied des Ersten Weltkriegs „The Last Long Mile“ stammte aus seiner Feder und entstand während seiner Armeeausbildung 1917.
Trotz der musikalischen Inspiration war das Elternhaus des kleinen Paul alles andere als ein Zuckerschlecken. Sein Biograf Doug Ramsey beschreibt Desmonds schwierige Kindheit aufgrund der psychischen Probleme seiner intellektuellen Mutter Shirley, die dazu führten, dass der kaum Siebenjährige knapp fünf Jahre lang bei Verwandten in New Rochelle (New York) leben musste. In dieser für ihn düsteren Zeit fing er zunächst an Klarinette zu spielen, wurde Mitglied im – für die damalige Zeit üblich – auf Psalterien und Glockenspiele beschränkten Schulorchesters und wollte zudem an der Polytechnic High School Französisch- und Geigenunterricht nehmen. Sein Vater hielt von besagtem Streichinstrument nicht viel, da er der Auffassung war, dass man damit weder Geld verdienen noch eine große Karriere machen könne.
Anfang der Vierziger sattelte Desmond dann auf Spanisch um und fing an der State University mit dem Spielen des Altsaxophons an – sozusagen auf Lebenszeit. Er absolvierte seinen Wehrdienst von 1943 bis 1946, trat der 253. Armeeband in San Francisco bei und traf erstmals auf den jungen Pianisten namens David „Dave“ Warren Brubeck, der seinerseits unter George S. Patton in der 3. US-Armee gedient und sich dann freiwillig als Pianist fürs Rote Kreuz beworben hatte. Die unmittelbare Beteiligung an Kampfhandlungen blieb beiden Musikern erspart, was der Menschheit zwei herausragende Jazzgrößen bescherte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Desmond in der Bay Area gelegentlich für Dave Brubeck im Geary Cellar in San Francisco. Anschließend leitete er eine kleine Jazz-Combo in in Redwood City, zu der wiederum Dave Brubeck gehörte. Dann zerstritten sich beide, woraufhin Desmond mehrere Monate mit dem Pianisten und Bandleader Jack Fina auf Tournee ging. Kurz nachdem er Brubecks Trio im Radio gehört hatte, kehrte Desmond aber nach Kalifornien zurück und beschloss unvermittelt, seine Beziehung zu Brubeck zu reparieren und dessen zunehmend erfolgreicher Band beizutreten.
Nachdem Desmond Brubeck davon überzeugen konnte, ihn einzustellen, dachten sich die beiden einen eher merkwürdigen Vertrag aus, den Brubeck zudem alleine unterzeichnete. Das Papier untersagte die Entlassung Desmonds, sicherte Brubeck den Status als Bandleader und gewährte Paul Desmond zwanzig Prozent aller mit dem Quartett erzielten Gewinne. Das war der Anfang des Dave Brubeck Quartet, das von 1951 bis Ende 1967 andauerte – mit Zwischenstationen wie dem kurzlebigen Dave Brubeck Octet, welches ein Jahrzehnt als reduzierter Studioaufguss Dave Brubeck Quintet nochmals kurz wiederauflebte.
Ich hatte den Mittelteil irgendwie vage im Kopf. Ich dachte: „Wir könnten das machen, aber dann müssten wir wieder modulieren, und wir spielen bereits in 5/4 und sechs B, und das ist genug für einen Tag Arbeit.“ Zum Glück haben wir es ausprobiert, und so kam der Hauptteil des Songs zustande.
Paul Desmond über seinen größten Hit
Paul Desmond lief mit Duane Reeves Lamon (1927-2013) von 1947 bis 1949 nur ein einziges Mal in den Hafen der Ehe ein und galt laut Ramsey als absoluter Frauenheld. Jener Mann, der scheinbar nicht zu längeren Beziehungen in der Lage oder willens war, sollte ausgerechnet der profilierteste Musiker im Umfeld des zutiefst religiösen und sechsfachen Familienvaters Brubeck werden, der seinerseits über siebzig Jahre lang mit der Jazzlyrikerin Iola Whitlock verheiratet war.
Da Gegensätze sich anziehen, können Brubeck und Desmond auf eine höchst fruchtbare Zusammenarbeit von 62 Alben zurückblicken. Im September 1959 erschien Desmonds Komposition Take Five, dessen verbale Beschreibung seiner musikalischen Qualität niemals gerecht werden kann. Ironischerweise ist das Stück eine von vielen Folgen der US-Propaganda aus der Zeit des Kalten Krieges. Eine vom US-Außenministerium (tatsächlich der CIA) gesponserte Eurasien-Tournee verhalf Desmond dazu, zahlreichen unterschiedlichen Rhythmen und Klängen zu begegnen, die dann allesamt in Take Five zusammenfanden und zu reiner musikalischer Wonne kulminierten. Erst 1961 wurde der so genannte Sleeper-Hit zum Erfolg und eine der meist verkauften Jazz-Singles aller Zeiten. Das Album Time Out wurde zum Klassiker und ist unabdingbarer Bestandteil jeder ernsthaften Musiksammlung, zumal die Aufnahmequalität bis heute auch kritischen Ohren standhält.
Auch außerhalb der Zusammenarbeit mit Dave Brubeck war Paul Desmond nicht untätig. Zu den drei Veröffentlichungen mit Gerry Mulligan und sechs mit Chet Baker kamen noch 19 Alben, in denen Paul Desmond höchstselbst als Bandleader fungierte. Die persönlichen Favoriten des Verfassers dieses Beitrags darunter sind „Desmond Blue“ (1962), „Glad To Be Unhappy“ (1964), „Bossa Antigua“ (1965) und „From The Hot Afternoon“ (1969).
Am 30. Mai 1977 starb Desmond im Alter von nur 52 Jahren. Zu seiner Überraschung sollten ihn nicht die zahlreichen Rauschmittel (Amphetamine, LSD und Whisky) seines Lebens umbringen, sondern der starke Konsum von „Pall Mall“-Zigaretten. Als sein Krebs diagnostiziert wurde, trieb er mit dem Entsetzen Scherz und war über den hervorragenden Zustand seiner Leber höchsterfreut.
Was bleibt nun vom Andenken an den großen Paul Desmond fast fünfzig Jahre nach seinem Tod? Jazz als Musikgattung scheint insgesamt unter Schwindsucht zu leiden und sich mitsamt der Drogen- und Alkoholexzesse seiner Musiker aus dieser verkommenen Welt zurückzuziehen. Nur wenige progressive junge Jazzmusiker wie Kamasi Washington können noch eine fortdauernde Karriere vorweisen, auch gibt es kaum noch bekannte und erfolgreiche Jazzkompositionen, erst recht nicht auf dem Niveau von Take Five. Seit fünfzig Jahren beobachten wir nun den schleichenden Tod einer ganzen Musikgattung.
Damals dachte ich, es sei eine Art Wegwerfprodukt. Ich war bereit, die gesamten Rechte an Take Five gegen einen gebrauchten Ronson-Elektrorasierer einzutauschen.
Paul Desmond über seinen größten Hit
Paris in den Achtzigern war der wenig gelungene Aufguss des Paris vergangener Tage, als es dort noch echte Markthallen und Schlachthöfe gab, Saint Germain kein Disneyland für US-Touristen und das Musée d’Orsay noch ein Geisterbahnhof war. Damals streunten zwei junge Männer nach durchzechter Nacht durch die Stadt und hatten sich ausgerechnet am brachialen Manifest des Kapitalismus, dem Tour Montparnasse verirrt. Plötzlich erklang dort etwas sehr vertrautes und der graue und verregnete Tag wurde schlagartig heiter und unbeschwert: es war Desmonds unsterbliche Komposition Take Five, eingeübt von ein paar jungen Musikern für einen abendlichen Auftritt.
Was bleibt, das ist die Erinnerung und natürlich die Hoffnung auf eine Renaissance all dessen. Beim Hören von Desmonds Werk stellen sich überhaupt nur positive Gedanken ein. Der Mensch kann sehr wohl mit der Welt im Einklang leben, zumindest mit einem Glas Whisky in der Hand. Glückliche Hummeln, süß duftende Blüten in Trompetenform, im leichten Sommerwind wehende Felder und strahlend blauer Himmel kommen in den Sinn. Man kann ganz mit sich allein sein, solange nur Paul Desmonds Musik dabei ist – was er geschaffen hat, das macht heiter und zufrieden.
David Andel