Pyramide in Gizeh

Ă„gyptenreise ohne Dragoman

Ägypten ist ein altes Reiseland. Die bildungs- und sonnenhungrigen Gruppenreisenden, die es — tunlichst zwischen September und Mai — als Ziel wählen, bewegen sich auf vielbegangenen Trampelpfaden der Weltgeschichte. Auf ihnen kamen schon Griechen und Römer, Byzantiner und Perser, Araber, Franzosen und Engländer daher, um nacheinander eine der ältesten Hochkulturen der Menschheit zu erobern. Die hier Beheimateten erwehrten sich dieser frühen „Touristen“ kaum. Sie warteten gelassen, bis sie wieder abzogen. Die dablieben, vertrugen sich mit ihnen: Araber, griechische und armenische Kaufleute, Juden. Das Niltal ist ein Vielvölkeridyll. Wo einst britische Kasernen standen, prunkt jetzt das „Nil-Hilton“ — Symbol einer modernen Besatzung, an die sich die Ägypter längst gewöhnt haben.

Die Pyramiden von Gizeh waren schon eines der Sieben Weltwunder, ehe 4000 Jahre später die verwitwete Mrs. Jones aus Cincinnati darauf verfiel, die von ihrem Seligen hinterlassenen Dollars auf die schmale Devisenbilanz des vorläufig letzten Nildiktators und ihre lilagefärbte Frisur und ein männermordendes Zähnefletschen irgendeinem Dragoman auf die Nerven zu träufeln. Alte Damen, die aussehen wie mit nachgeschneiderten Dior-Modellen verkleidete Lederstrümpfe, scheinen das Hauptkontingent der modernen Ägyptentouristen zu bilden. Obwohl es ganz gleichgültig wäre, ob sie ihre Tage im Frisco-Hilton oder in der Kairoer Touristenkarawanserei des cleveren US-Superbusineßmannes verbringen, trifft man die mühselig noch einmal aufgetakelten, ausrangierten Liberty-Schiffen ähnlichen Amerikanerinnen nirgendwo häufiger als zu Füßen der Sphinx. Keine Redensart kann man dort öfter hören als das krächzende: „Very nice!“ Das monumentale Abbild des Pharaos Chefren (73,5 Meter Tang und 20 Meter hoch) ist, seitdem es die Mamelucken vor 600 Jahren als Schießscheibe mißbrauchten und ihm dabei die Nase verunstalteten, durch nichts mehr zu erschüttern.

US-Touristen sind nicht die zahlreichsten, aber die auffälligsten Ausländer in Ägypten. Doch eine Nilfahrt ist nicht nur für Dollarkassen erschwinglich. Pharaonen sind en vogue! Inserierte kürzlich ein ägyptisches Informationsbüro: „Eine Woche Sonnenschein in Ägypten: nur 300 DM!“ Erst als es der Briefflut von Leuten gewahr wurde, die — für diesen Preis — auch lieber an den Nil statt an die Costa Brava fahren wollten, kam das pfiffige Büro darauf, daß es die Anreisekosten vergessen hatte.

Ganz so billig gelangt man also doch nicht zu Sonnenschein, Tempelruinen und orientalischen Bazaren. Eine preiswerte 14tägige Gesellschaftsreise wird allerdings für fast dieselbe Summe angeboten, die sonst das normale Flugbillett Frankfurt—Kairo—Frankfurt kostet. Auf diese Weise ist rasch und mit sachkundiger Führung alles zu sehen, was Ägypten bietet: Kairo, die größte Stadt Afrikas. Hyperelegante Luxushotels, die in jeder anderen internationalen Metropole auch stehen könnten (Hilton, Shepheards, Semiramis). Das Vergnügen, den Aperitif im gerade 100jährigen Menahouse au schlürfen, wo sich einst Millionäre, Abenteurer und Forscher und die große Welt vom jungen Churchill bis zum alten Aga Khan die Tür in die Hand gaben. Der Khan-el-Khalili-Bazar, in dem man für teures Geld vom sandgefüllten Miniaturkamel bis zum plastikeingelegten Mosaikkästchen alles erwerben kann, was daheim en masse für die Hälfte zu haben ist. Museen, in denen die Überreste einer glorreichen Vergangenheit aufgestapelt sind wie die unverkäuflichen Ladenhüter im Keller eines Warenhauses.

Hilton-Reisewerbung

Sind Sie Gruppentourist, so gehört der nächtliche Besuch an Pyramiden und Zitadelle (mit Tonlichtspiel in sechs Sprachen) für Sie ebenso zum Programm wie der Flug nach Luxor und — gegen geringen Aufpreis — die Schnellbootfahrt nach dem vom neuen Stausee bedrohten Abu Simbel. Nur, Sie werden nach 14 Tagen kaum noch wissen, wo und was und wann Sie sahen, und sich die Stationen Ihrer Bildungsreise zu Hause auf bunten Dias betrachten müssen …

Deshalb ein guter Rat: Man sollte allein oder in privater Gesellschaft reisen! Und gleich noch ein paar Fingerzeige: Schiffahrten sind bekanntlich lustig — und erholsam. Sofern man fliegt, geht’s schneller, man versäumt aber den Reiz des Kennenlernens. Der Kairoer Flughafen hat es mit Hilfe von guten 40 Millionen fertiggebracht, genauso auszusehen wie alle anderen Flughäfen der Welt, von denen man glaubt, da wieder auszusteigen, wo man eingestiegen ist. Die Schiffstour von Genua, Venedig, Brindisi oder Piräus ist allein schon ein unverwechselbares Erlebnis.

Ägypten beginnt zu bezaubern, sobald nach nächtlicher Fahrt über das Mittelmeer die Silhouette Alexandrias auftaucht. Sie werden den Anblick nie vergessen. Alexander der Große gründete die „Perle des Mittelmeeres“, und Napoleon rief enthusiastisch aus, sie müsse das Herz der Welt sein. Aber photographieren Sie nicht, wenn das Schiff in den Hafen einläuft. Er ist militärisches Sperrgebiet, und das könnte Sie den Film kosten! Die Ägypter sind so friedlich gesinnt, daß sie von panischer Spionenfurcht besessen sind. Knipsen Sie auch keine Brücken. Auch die sind — obgleich sie jeder sehen kann — geheim. Wenn Sie unbedingt eine Brückenansicht haben wollen, kaufen Sie sich in der deutschsprachigen Buchhandlung in der Sharia Sherif Pasha eine Postkarte. Bei der Grenzkontrolle werden Sie erleben, daß keine Bürokratie so umständlich ist wie die ägyptische. Füllen Sie geduldig alle Dokumente aus, und ärgern Sie sich nicht darüber, daß man Sie womöglich nach der jüdischen Großmutter fragt. Mit Antisemitismus hat das nichts zu tun. Und schmuggeln Sie keine Devisen! Darauf stehen schwere Strafen, und es ist unfair, ein junges Land wegen eines geringen Vorteiles um den gerechten Preis für die Gastfreundschaft zu prellen. Die Zollbeamten und die Polizistenisind dafür hierzulande viel höflicher als anderswo. Hier hat man Zeit.

Für eine Ägyptenreise braucht man Zeit. Drei oder vier Wochen mindestens. Fahren Sie mit dem Zug nach Kairo. Nicht erster, das ist zu snobistisch, und nicht dritter oder vierter Klasse, das mag zu schmutzig sein. Fahren Sie zweiter Klasse. Auf der zweistündigen Fahrt durch das Nildelta werden Sie so viele Gesprächspartner finden, daß Sie schon enge Tuchfühlung mit Land und Leuten haben, bevor Sie auf dem Kairoer Bahnhofsvorplatz einen Augenblick lang geblendet die Augen -schließen, sie wieder öffnen und einer 20 Meter hohen Kolossalstatue des Pharao Ramses II. gegenüberstehen. Wählen Sie kein Luxushotel. Dann können Sie nämlich ebensogut nach Cannes, Ostende oder Miami Beach reisen. Für Kairo sollte man — schon zu Hause — aus dem zuverlässigen Hotelplan ein mittleres Haus aussuchen. Es wird weitaus preiswerter, und gemütlicher sein, als man fürchten könnte. In. der „Pension Roma“, einem italienisch geführten sauberen Etagenheim im Stadtzentrum, zahlt man für ein Einzelzimmer weniger als in München oder Wien.

Wenn Sie nun ausgeruht einen kleinen Jungen heranwinken und sich für einen Piaster zu Vita Modiano bringen lassen, hat sich der Bazarbummel schon gelohnt. Vita ist italienischer Jude. Schon sein Vater verkaufte, was ihm die Grabräuber und Fälscher von Sakkara und aus dem Fayum brachten. Die Kontrollen sind strenger, und die Ausbeute ist geringer geworden. Doch wenn Sie Glück haben, erwerben Sie eine echte Antiquität: eine Statuette aus dem Neuen Reich, eine Kartusche von Thutmosis, eine hölzerne Grabmaske oder eine alte Münze, ein persisches Perlmutterkästchen oder eine griechische Ikone. Feilschen Sie nicht! Er hat feste Preise, und was Sie kaufen, ist es wert.

An einem klaren Nachmittag sollten Sie hinausfahren zum Mokattam, Kairos einzigem Gebirge. Taxifahren ist hier billiger als in jeder anderen Großstadt, und die Taxidriver sind fast immer ehrliche Leute. Man zahlt nicht mehr, als die Zähluhr anzeigt, und zwei oder drei Piaster Aufgeld. Von oben bietet sich ein überwältigender Blick auf die Viereinhalbmillionenstadt. Unter Ihren Füßen liegt die mittelalterliche Totenstadt. Die Zitadelle, in der Mohammed Ali die Mameluckenfürsten umbringen ließ und wo auch heutzutage noch politische Gegner schmachten. Sultan-Hassan- und Rifai-Moschee. Weiter hinten schlängelt sich das silberne Band des Stromes entlang. Fern am Horizont verliert sich das Häusergewirr an den Pyramiden im Sand. Der Sonnenuntergang überschüttet alles mit rotgoldenen Strahlenbündeln, wie es prächtiger keine Farbpostkarte fertigbringt. Hier oben ist es um diese Zeit klar und still; der abendliche Gebetsruf des Muezzins schenkt der Seele Frieden.

Kairo ist nur das eine Gesicht Ägyptens, das es strahlend und manchmal hochmütig der Welt zeigt. Seine Dörfer sind das andere, sich selbst zugekehrte. Wer an den Nil reist, sollte auch nach Assuan fahren. Dort erlebt man Vergangenheit und Zukunft eines alten Kulturlandes hart nebeneinander. In den umherliegenden Fellachen-dörfern leben die direkten Nachkommen der Pharaonen. Wie vor 5000 Jahren trotten Ochsen im Kreis und treiben das Schöpfrad der Sakija an: Wasser für die karge Erde.

Scheinbar in Rufweite, am Wendekreis des Krebses, unter dem Kreuz des Südens, unweit der sudanesischen Grenze, in der Nähe des Platzes, wo sich der Nil durch das wie von einer Riesenfaust in den granitenen Felsen gesprengte Tor von Kalabscha zwängt, im Blickfeld des Mausoleums, das sich der lebende Gott der Ismaeliten, Aga Khan, auf einem kahlen, hellbraunen Berggipfel erbauen ließ, entsteht der „Sadd el-Aali“. Es ist ein. durch nichts zu überbietendes Erlebnis, an diesem größten Bauplatz der Erde zuzusehen, wie Tag und Nacht 20.000 Menschen mit modernsten Maschinen und Geräten und mit ihren bloßen Händen einen Damm bauen, der Ägyptens Volksmassen, die sich in knapp 20 Jahren verdoppeln werden, ernähren soll. Abends sitzt man auf der schattigen Terrasse des Katarakt-Hotels, von dem viele sagen, er sei der schönste Flecken Ägyptens.

Das ursprüngliche Ägypten lebt fort im neuen Tal. So heißt heute, was Herodot die „Insel der Seligen“ nannte. Etwa 300 Kilometer südwestlich von Assiut liegt die aus den Oasen Kharga und Dakhla bestehende fruchtbare Senke. Herodot hielt sie für eine der reichsten Gegenden der damals bekannten Welt, und sie war bis zum zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung dicht besiedelt.

Der Hibistempel, an dem viele Generationen bis zu den letzten Ptolemäern bauten, griechische Inschriften, die Reste römischer Siedlungen, Wasserleitungen und Befestigungsanlagen und eine koptische Totenstadt bilden ein anschauliches Kaleidoskop ägyptischer Geschichte auf engstem Raum. Und alles kann man allein und stundenlang durchstreifen. Seit um die Zeitenwende Sand und Wind kamen und die blühende Insel im Wüstenmeer allmählich zudeckten, gelangten nur selten Reisende in das abgelegene Tal. Sie verewigten ihre Namen — wie der Afrikaforscher Georg Schweinfurth — an den Mauern des Hibistempels. Im 18. und 19. Jahrhundert waren die Tempelanlagen noch zuweilen Reiseziel unternehmungslustiger ausländischer Touristen gewesen. Zahllose Namenszüge und Jahreszahlen in den Sandsteinquadern beweisen es. Erst unser Jahrhundert, das die bequeme Pauschalreise erfand, glaubte die „Insel der Seligen“ aus ihrem Repertoire streichen zu können. Sie wartet nur darauf, wieder entdeckt zu werden …

Den Abschluß einer Ägyptenreise ohne Dragoman sollte der Bauchtanz im „Beduinenzelt“ des Hilton, im „Omar-Khayam-Boot“ oder im „Sheherazade“ bilden. Sehen Sie sich die 20 Minuten lang wirbelnde Muskulatur einer üppigen Tänzerin am letzten Abend an. Die orientalischen Rhythmen schaukeln Sie sanft hinüber in den Alltag. Wenn Sie am anderen Morgen aufs Schiff oder ins Flugzeug steigen, haben Sie Freundschaft mit Ägypten und seinen Menschen geschlossen. Sie werden wiederkommen und kein Tourist sein, wie geschrieben steht: „Wer einmal Nilwasser trank, kehrt zurück!“

Horst J. Andel