Der Krieg, der Film und das Kind

Im Gegensatz zur oftmals verlautbarten Vorgabe sind öffentlich-rechtliche Medien alles andere als unabhängig, auch nicht auf der britischen Vorbildinsel besagten Rundfunkkonstrukts. Es kam daher überraschend, dass die allseits kritisierte BBC es wagte, einen Dokumentarfilm über das Leben der Bewohner im Gasastreifen auszustrahlen. Nicht überraschend war hingegen, dass Israel damit nicht einverstanden sein würde.

In perfektem Englisch führt ein schlaksiger Junge schnellen Schrittes erklärend durch die allgegenwärtigen Trümmer und Zeltlager, als wäre alles ein großer Abenteuerspielplatz. Er erzählt von seiner Ausbildung in der britischen Schule des Gasastreifens, die er für die beste hält, was er mit seinen Sprachkenntnissen beeindruckend zu belegen weiß. Der 14-jährige Abdullah ist perfekter Vertreter einer kommenden Generation Palästinas, die vor allem den oftmals aus den USA stammenden Juden zumindest sprachlich Paroli bieten kann. Er lebt allerdings in Umständen, die wenig Hoffnung aufkeimen lassen und wird ohne Unterlass für etwas bestraft, woran er nicht beteiligt war.

Ein Mädchen schreit vergebens nach seiner Mutter
Ein Mädchen schreit vergebens nach seiner Mutter

Die Dokumentation Gaza: How to Survive a Warzone ist eine jener seltenen Ausnahmen, die aktuelle Bilder aus der Vorhölle Palästinas zeigen, über die der Wertewesten nur ungern berichtet, da dessen zionistischer Vorposten seit 77 Jahren die Opferrolle für sich allein in Beschlag genommen hat. Der schmale Küstenstreifen, der mittlerweile der Stadt Dresden im Februar 1945 ähnelt, ist für die internationale Berichterstattung nicht mehr zugänglich, da Israel nicht nur die unabhängige Berichterstattung verunmöglicht, sondern auch vor Ort befindliche Journalisten als Freiwild betrachtet. Der Journalistenverband CPJ veröffentlichte, dass bis dato 170 Journalisten und Medienmitarbeiter getötet wurden, darunter 162 Palästinenser, zwei Israelis und sechs Libanesen. 59 Journalisten wurden als verletzt, zwei als vermisst und 75 als verhaftet gemeldet. Überdies gab es zahlreiche Fälle von Angriffen, Drohungen, Cyberangriffen, Zensur und die Ermordung von Familienmitgliedern zu beklagen.

Israelischen Angaben zufolge wurden im Rahmen der Operation al-Aqsa-Flut am 7. Oktober 2023 von palästinensischen Angreifern 1.139 Menschen ermordet oder im Kampf getötet, darüber hinaus gab es über 5.400 Verletzte und 250 Personen wurden in den Gasastreifen entführt. UN-Ermittler unter der Leitung der ehemaligen UN-Menschenrechtsbeauftragten Navi Pillay stellten außerdem fest, dass mindestens 14 israelische Zivilisten, darunter zwölfjährige Zwillinge und eine 68-jährige Großmutter, „wahrscheinlich durch das Feuer der israelischen Sicherheitskräfte getötet wurden“, was als Folge der geheimen Hannibal-Direktive Israels gilt.

Als Racheaktion begann die Besatzungsmacht noch am selben Tag die Operation Eiserne Schwerter, die am 27. Oktober 2023 in eine bis heute andauernde Invasion ĂĽberging, in deren Verlauf palästinensischen Angaben zufolge bislang 46.707 Palästinenser getötet und 110.265 verletzt wurden. Die Bilanz Ende Februar 2025 ist, dass 41-mal so viele Bewohner des Gasastreifens wie jene bei den Angriffen am 7. Oktober 2023 zu Tode kamen. Dies ist seit 1948 der brutalste Krieg des Besatzers gegen das von ihm unterjochte Volk.

Ein Bub fragt verzweifelt, ob er in Sicherheit ist
Ein Bub fragt verzweifelt, ob er in Sicherheit ist

Laut der nichtstaatlichen palästinensischen Organisation Healthcare Workers Watch (HWW) sind 162 Angehörige des medizinischen Personals, darunter einige der ranghöchsten Ärzte des Gasastreifens, immer noch in israelischer Haft. 24 weitere Mitarbeiter werden vermisst, seit sie von israelischen Angriffsverbänden aus Krankenhäusern entführt wurden. Die mittlerweile veröffentlichten Aussagen ehemaliger inhaftierter Ärzte, Chirurgen und Mitglieder des Pflegepersonals zeugen von brachialen israelischen Foltermethoden: systematische Verkrüpplung der Hände von Chirurgen, bewusstes Einschlagen auf vorhandene Verletzungen, Verwendung von Toiletten- als Zahnbürsten, anale Penetration mit Schlagstöcken …

Die propagandistische Behauptung, dass sich im Gasastreifen bewaffnete Kämpfer grundsätzlich hinter Frauen und Kindern oder in Krankenhäusern und Schulen verschanzen würden, ist ebenso unglaubwürdig wie die Unterstellung, dass auf israelischem Gebiet eine eindeutige Trennung zwischen Militärangehörigen und Zivilisten möglich wäre. Offiziellen israelischen Angaben zufolge befanden sich unter den Opfern vom 7. Oktober 373 Nicht-Zivilisten. Die israelische Gesellschaft ist prinzipiell militärisch durchwachsen. Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, dort irgendwo – auch nur für kurze Zeit – keinem Armeeangehörigen zu begegnen.

Ziel der fortwährenden israelischen Propaganda ist es, die Opfer der zionistischen Enteignung und seit 77 Jahren andauernden Besatzung zu entmenschlichen und zu Tätern zu deklarieren, wozu eine derartige Dokumentation nicht beiträgt, da sie nicht nur die direkten Folgen des brutalen israelischen Angriffskrieges auf die zivilen Bewohner des Gasastreifens zeigt, sondern auch den Alltag jener darstellt, die mit fast übermenschlicher Kraft das Funktionieren ziviler Strukturen aufrecht zu erhalten suchen. Das Bild des religiös verblendeten Bombenwerfers wird mit solchen Eindrücken nachhaltig zerstört.

Die zehnjährige „Kindfluencerin“ Ranad
Die zehnjährige „Kindfluencerin“ Renad, begeisterte Hobbyköchin

Der Dokumentarfilm nimmt die Perspektive von Kindern ein, obgleich dies von den Produzenten nicht geplant war. Geschildert werden die ausgesprochen unterschiedlichen Eindrücke der begeisterten zehnjährigen Hobbyköchin Renad, die es im Internet zu einer regelrechten „Kindfluencerin“ gebracht hat und immer noch unter den unmöglichsten Umständen ihren zahlreichen Fans Kochrezepte vermittelt sowie das abenteuerliche Leben des elfjährigen Zakaria, der auf Gedeih und Verderb als Aushilfe im Notarztwagen und im letzten verbliebenen Krankenhaus arbeiten möchte, da ihn alles andere nicht mehr interessiert.

Insbesondere der Fall des kleinen Zakaria weiß zu beeindrucken. Der kleine Tunichtgut hat im Chaos seine Berufung gefunden und lebt die meiste Zeit allein im Krankenhaus. Aufgrund des von Israel entführten und getöteten medizinischen Personals muss es nun ein Elfjähriger richten, der im Verlauf seiner Tätigkeit um Jahrzehnte gealtert erscheint. Ihm Nahestehende sprechen von einem Vierzigjährigen im Körper eines Kindes, die brutalen Bilder des Krieges bleiben selbst am Zuschauer haften. Dabei wird immer wieder deutlich, dass die israelische Armee auf alles schießt, was sich bewegt und Gasa sich zunehmend zu einem Desaster ähnlich dem Vietnamkrieg entwickelt. Angesichts der Dauer des israelischen Angriffskrieges (16 Monate) sowie der geringen Größe (365 km²) und hohen Bevölkerungsdichte (5.967 Einwohner pro km²) des Gasastreifens sind die bekannten Verluste bereits deutlich schwerwiegender.

Der elfjährige Zakaria, Krankenpfleger aus Leidenschaft
Der elfjährige Zakaria, Aushilfskrankenpfleger aus Leidenschaft

Die einzelnen Bestandteile der Dokumentation verknüpft der 14-jährige Abdullah, dessen Familie zwar in der gesamten Dauer des Beitrags nicht zu sehen ist, dessen Vater jedoch Politiker ist, womit auch der Stein des Anstoßes gefunden wäre, der die ganze Affäre der Empörung ins Rollen brachte. Abdullahs Vater Ayman Alyazouri ist stellvertretender Landwirtschaftsminister der Hamas-geführten Regierung im Gasastreifen. Jene Hamas-Regierung, die zuvor vom Netanjahu-Regime mit Geldkoffern versorgt wurde, um sich als Gegner von Arafats Fatah an der Macht zu halten. Jene Hamas-geführte Regierung, die für die Anschläge vom 7. Oktober 2023 verantwortlich zeichnet.

Der vierzehnjährige Abdullah, Moderator mit perfekten Englischkenntnissen
Der vierzehnjährige Abdullah, Moderator mit perfekten Englischkenntnissen

Es ist kaum verwunderlich, dass die lautstärkste Kritik vom ehemaligen BBC-One-Controller Danny Cohen ausging, dem nicht nur der Niedergang des Jugendsenders BBC Three, sondern auch die Produktion von Serienkitsch wie „Call the Midwife“ oder „Happy Valley“ zu verdanken ist. 2014 meinte er, dass er sich „als Jude im Vereinigten Königreich noch nie so unwohl gefühlt“ habe und schob 2016 die nachfolgende bemerkenswerte Aussage nach:

Wenn Sie Jude sind, wie können Sie für sie [die Arbeiterpartei] stimmen? Wie könnten Sie das? Für mich wäre es so, als wäre ich ein Muslim und würde Donald Trump wählen, wie könnten Sie das tun?

Danny Cohen am 16. April 2016 in einem Beitrag der britischen Zeitung The Times

Trumps Pläne, aus Gasa einen weiteren Abstellplatz für die Hollywoodschaukeln fettgefressener US-Touristen machen zu wollen, sollten das bedauerliche Unwohlsein Danny Cohens verringern helfen, weshalb die Empörung der ehemaligen BBC-Führungskraft befremdlich erscheint. Palästinenser im Gasastreifen dürften sich davon abgesehen noch unsicherer fühlen als Cohen zu Zeiten der aalglatten Starmer-Regierung. Man darf sich zudem fragen, inwiefern Joe Biden für Araber die bessere Wahl gewesen wäre, wenn sich dieser bereits seit 1973 als stolzer Zionist sah.

Diese pauschale Rhetorik geht davon aus, dass Palästinenser, die in der Verwaltung tätig sind, von Natur aus an der Gewalt beteiligt sind – eine rassistische Trope, die dem Einzelnen seine Menschlichkeit und das Recht abspricht, über seine Erfahrungen zu sprechen.

Zitat aus einem Brandbrief von 500 Medienschaffenden gegen die Absetzung der Dokumentation

Die BBC kam ihrer Unabhängigkeit vollumfänglich nach und hat die Möglichkeit, Gaza: How to Survive a Warzone per Streaming über den iPlayer-Dienst anzuschauen, deaktiviert. Es fällt jedoch nicht schwer, über einschlägige Quellen immer noch Zugriff auf die sehenswerte Produktion zu erhalten.

David Andel