Mustafa Kemal (AtatĂŒrk) & Latife Ußßaki

Weder AtatĂŒrk noch Avrupa Ana

Als er am 29. Oktober 1923 der erste PrĂ€sident der noch jungen tĂŒrkischen Republik wurde, konnte sich kaum jemand ausmalen, was Mustafa Kemal aus dem einstigen Osmanischen Reich machen wĂŒrde. Die dank ihm sĂ€kularisierte und prowestliche TĂŒrkei des „AtatĂŒrk“ (Vater der TĂŒrken) genannten Reformers unterliegt heute einer permanenten Erosion, deren wesentlicher Auslöser eine EU der Ausgrenzung und ĂŒberkommenen christlichen Werte ist.

Die tĂŒrkische Marine hat derzeit 31 Kriegsschiffe im Bau, darunter ein weiterer FlugzeugtrĂ€ger, der das amphibische Angriffsschiff TCG Anadolu ergĂ€nzen soll. Dies alles ist Bestandteil der Doktrin des „blauen Vaterlandes“, unter der sich die TĂŒrkei zur dominierenden Seemacht des Mittelmeeres entwickeln will. Der 67-jĂ€hrige Cem GĂŒrdeniz ist ehemaliger Kommodore der dritten tĂŒrkischen Fregattenflottille, Konteradmiral, Abteilungsleiter fĂŒr PlĂ€ne und Politik im Hauptquartier der tĂŒrkischen SeestreitkrĂ€fte, Kommandeur der Landungstruppen und Kommandeur des Minenflottenkommandos. Er ist außerdem Autor einer Reihe von BĂŒchern, veröffentlichte zahlreiche Artikel, hielt ungezĂ€hlte internationale VortrĂ€ge und ist zudem GrĂŒnder des Marineforums der privaten Koç Üniversitesi. Als GĂŒrdeniz sich unlĂ€ngst in einem Interview unter anderem ĂŒber Israel, die NATO wie auch die USA Ă€ußerte, ließ dies aufhorchen.

67 Jahre lang hat die TĂŒrkei vor den Toren der EU gewartet, mit der Illusion, dass wir eines Tages als Teil Europas akzeptiert werden wĂŒrden. Die Wahrheit ist, dass wir das nie waren – und es auch nie sein werden. Die EU hat nie eines unserer zentralen geopolitischen Interessen unterstĂŒtzt.

Cem GĂŒrdeniz am 11. April 2025 in einem GesprĂ€ch mit dem US-Onlinemagazin The Cradle

WĂ€re die TĂŒrkei mit dem gleichen Elan in die EU-Staatengemeinschaft integriert worden, wie es im tragikomischen Fall der gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich toxischen Ukraine geschehen sollte, hĂ€tte dies das heute unglaubwĂŒrdig wie ĂŒberfordert wirkende BĂŒndnis auf eine andere Machtebene gehievt, bei der selbst die Aufnahme eines arabisch-jĂŒdischen PalĂ€stinas im Sinne einer neuen eurozentrischen und friedfertigen Levante vorstellbar gewesen wĂ€re. Der hinlĂ€nglich als zerstörerisch bekannte deutsche Provinzialismus verhinderte diese progressive Wirtschaftsregion bis an die Grenze Ägyptens jedoch und setzt die EU spĂ€testens mit dem Brexit einem vom Westen her ausgehenden Zerfallsprozess aus. Im Nahen Osten ist Deutschland seit Jahrzehnten Vasall der USA und bevorzugt die Aufnahme von FlĂŒchtlingen gegenĂŒber einer aktiven Rolle zur friedlichen wirtschaftlichen Entwicklung der Region. An die Stelle Deutschlands und der EU treten China und das von Deutschland unter US-amerikanischer neokonservativer Vorgabe ausgegrenzte Russland.

(Trump) weiß, dass die NATO eine Belastung und kein Vorteil ist. Seine Herausforderung ist nicht ideologisch – sie ist existenziell. Er will das amerikanische Imperium am Leben erhalten, indem er es auf eine nachhaltige GrĂ¶ĂŸe reduziert.

Cem GĂŒrdeniz am 11. April 2025 in einem GesprĂ€ch mit dem US-Onlinemagazin The Cradle
Mit EL AL nach Istanbul (Poster)
Poster der israelischen Fluglinie EL AL aus den Siebzigern

War AtatĂŒrk der Anfang vom Ende aller Hoffnung? Weder der TĂŒrkei noch der EU blĂŒht eine rosige Zukunft. WĂ€hrend die EU ihr Seelenheil im Neokonservatismus US-amerikanischer PrĂ€gung sucht und unter Verlust einer passenden US-FĂŒhrung zum karikaturesken Abziehbild der welkenden Großmacht gerĂ€t, mag sich die TĂŒrkei zwar in den Phantasien einer Wiedergeburt des Osmanischen Reiches verirren, erweitert und stabilisiert aber gleichzeitig seine strategische Situation, wie aktuell in Syrien zu beobachten ist. Obgleich die Erfolgsaussichten der TĂŒrkei durchaus grĂ¶ĂŸer als jene der EU sind, stellen die zahlreichen Stolpersteine auf dem Weg zum tĂŒrkischen Imperialismus moderner PrĂ€gung eine Verkettung von Gefahren dar, deren EinschĂ€tzung den traditionalistischen Technokraten Recep Tayyip Erdoğan ĂŒberfordern könnte. Ist die heutige TĂŒrkei verlĂ€ssliches NATO-Mitglied oder wirtschaftlich enger Freund Russlands? Steht es Israel oder PalĂ€stina nĂ€her und wird es ein unabhĂ€ngiges Kurdistan an seiner Seite akzeptieren oder nicht?

Die NATO ist heute ein Zombie-BĂŒndnis. Sie ist eher ein Mythos als ein funktionierender MilitĂ€rblock. Ihre Expansion war rĂŒcksichtslos. Ihre Operationen – vom Balkan ĂŒber Libyen bis zur Ukraine – haben ganze Regionen destabilisiert, und ihre GlaubwĂŒrdigkeit bricht zusammen.

Cem GĂŒrdeniz am 11. April 2025 in einem GesprĂ€ch mit dem US-Onlinemagazin The Cradle

Was die TĂŒrkei anstelle der bisherigen Machtmanipulatoren im Nahen Osten zu bieten hat, bleibt unklar. So ist sie einerseits zwar die stabilere und kompatiblere Alternative zum sich im ziellosen Dauerkrieg gegen sĂ€mtliche NachbarlĂ€nder verzettelnden Israel, kann sich anderseits aber nicht von der fruchtlosen Dauerfehde zu dem loslösen, was Kurdistan zu werden beabsichtigt. Integration war bereits nicht die Sache des einstigen Osmanischen Reiches, Integration lautet aber der SchlĂŒssel zum Erfolg gerade dort wo sich dieses einstige Imperium befand. Angesichts der fatalen politischen wie militĂ€rstrategischen UnfĂ€higkeit Israels könnte die TĂŒrkei mit KontinuitĂ€t glĂ€nzen und das Machtvakuum in Syrien und dem Libanon zu seinen Gunsten nutzen.

Binjamin Netanjahu und Recep Tayyip Erdoğan
Kalter Krieg oder gefĂ€hrliche Freundschaft: Netanjahu und Erdoğan

Wir mĂŒssen uns von der Illusion verabschieden, dass auslĂ€ndische Direktinvestitionen und die EU-Integration uns retten werden. Dieses Modell ist gescheitert. Es hat zu Schulden, Privatisierung und AbhĂ€ngigkeit gefĂŒhrt. Unsere Wirtschaft muss auf Produktion und nicht auf Spekulation aufgebaut werden.

Cem GĂŒrdeniz am 11. April 2025 in einem GesprĂ€ch mit dem US-Onlinemagazin The Cradle

In Sachen Israel hat Erdoğan sich mehr als nur einmal deutlich zu Wort gemeldet, was eine der Konsequenzen des christlich-europĂ€ischen Protektionismus ist und ein vorzĂŒgliches Beispiel fĂŒr die Gefahren des „Laissez faire“-Prinzips Deutschlands in seiner einseitigen Beziehung zu Israel darstellt. Deutschland trĂ€gt mit Israel und den USA die Hauptschuld fĂŒr das Leid der PalĂ€stina-Araber und verleugnet diese Verantwortung nicht erst seit der zionistischen StaatsgrĂŒndung bewusst, obgleich genau dies eine der vordringlichsten Lehren aus zwei angezettelten Weltkriegen sein mĂŒsste. Die TĂŒrkei wiederum ist seit dem Ersten Weltkrieg nicht nur Opfer des eigenen Zerfalls, sondern auch Deutschlands im Sinne des Verlustes territorialer Macht als Konsequenz seiner Gefolgschaft zum Deutschen Reich. Die heutigen tĂŒrkisch-deutschen Beziehungen sind wie die tĂŒrkisch-israelischen auf einem Tiefpunkt angelangt. KĂ€me es zu einer grĂ¶ĂŸeren kriegerischen Auseinandersetzung im Nahen Osten unter Einbeziehung Russlands und der USA, darf bezweifelt werden, dass der NATO-Partner TĂŒrkei den laut Erdoğan „faschistischsten und rassistischsten Staat der Welt“ Israel dabei verteidigen wĂŒrde. Und ein solcher Konflikt ist nĂ€her als je zuvor.

Die militÀrische Macht der USA hat im Irak, in Libyen und in Afghanistan versagt. Statt StabilitÀt brachte sie nur Zerstörung. Russland hat sich nach 2008 militÀrisch wieder durchgesetzt. China stieg wirtschaftlich und technologisch auf und forderte die westliche Hegemonie heraus.

Cem GĂŒrdeniz am 11. April 2025 in einem GesprĂ€ch mit dem US-Onlinemagazin The Cradle

StaatsrĂ€son mag Israel fĂŒr Deutschland der Behauptung nach sein. Die TĂŒrkei jedoch aus der EU verstoßen und nicht in sie integriert zu haben, scheint nicht minder StaatsrĂ€son der ehemaligen Bonner Republik gewesen zu sein. Die osmanische Politik der Ermordung armenischer MitbĂŒrger fand unter tatkrĂ€ftiger UnterstĂŒtzung der deutschen Regierung und Armee statt und ist hinreichend in den Akten des AuswĂ€rtigen Amtes dokumentiert. Das ebenfalls mit Völkermord beschĂ€ftigte und von Deutschland gestĂŒtzte Netanjahu-Regime beabsichtigt neunzig Jahre spĂ€ter zur alleinherrschenden nahöstlichen Großmacht zu werden und trifft dabei ausgerechnet auf den ehemaligen VerbĂŒndeten Deutschlands. Auch die TĂŒrkei verfolgt das Ziel der Vorherrschaft in der Region – dies allerdings mit grĂ¶ĂŸerer Effizienz und vor allem Geduld.

Israels Völkermord im Gasastreifen, der von Washington offen unterstĂŒtzt wurde, hat jegliche LegitimitĂ€t zerstört. Das westliche System liegt nun ungeschĂŒtzt da – wirtschaftlich ĂŒberschuldet, diplomatisch isoliert und militĂ€risch verwundbar.

Cem GĂŒrdeniz am 11. April 2025 in einem GesprĂ€ch mit dem US-Onlinemagazin The Cradle

Dem Staat am Bosporus ist die ungebremste Expansion der westlichen Speerspitze Israel ein Dorn im Auge. Da ist sie wieder, die Arroganz des Kolonialismus der vergangenen hundert Jahre mitsamt ihrer Vorschriften, was die TĂŒrkei zu tun oder zu lassen hat. Obgleich Istanbul die viertstĂ€rkste Armee der NATO stellt, ist die TĂŒrkei weder Mitglied der EU noch gewĂ€hrt man ihr die gleichen Freiheiten wie dem neozionistischen Regime Israels. Jede Aktion der TĂŒrkei gegen ihren kurdischen Erzfeind wird vom Westen mit höchster Skepsis beobachtet oder Verachtung kommentiert. Israel in seinem Dauerkrieg gegen den hausgemachten arabischen Erzfeind hingegen erhĂ€lt Applaus von jedem verhinderten Kreuzritter und politischem Provinzclown innerhalb der EU und vor allem Deutschlands.

Wir werden uns nicht an Sanktionsregimen gegen unsere Nachbarn beteiligen. Wir werden keine auslĂ€ndischen StĂŒtzpunkte beherbergen, die auf andere Staaten abzielen. Und wir werden nicht in die scheiternden Kriege der NATO hineingezogen werden.

Cem GĂŒrdeniz am 11. April 2025 in einem GesprĂ€ch mit dem US-Onlinemagazin The Cradle

Die Erkenntnis dieser wertewestlichen Bigotterie bleibt nicht ohne Folgen. Die TĂŒrkei sucht ihr GlĂŒck nun nicht mehr als Bestandteil des Westens, sondern abseits davon. Ein Teil der tĂŒrkischen BemĂŒhungen lĂ€sst sich in Syrien beobachten und trĂ€gt kaum zur Beruhigung oder Stabilisierung der instabilen Eurokratie bei. Die tĂŒrkische UnterstĂŒtzung des fundamentalistischen HTS-Regimes (HaiÊŸat Tahrir asch-Scham) in Damaskus lĂ€sst die Alarmglocken im BĂŒro der erzkonservativen Christin von der Leyen lĂ€uten, die sich gewiss weit besser mit einer Neuordnung der Region unter dem Aspekt des christlichen Zionismus vorstellen könnte, als sie öffentlich zuzugeben bereit ist.

Die Werte der EU sind selektiv. Wenn es um die Seerechte der TĂŒrkei geht, unterstĂŒtzt sie den griechischen Maximalismus. Wenn es um PalĂ€stina geht, sagen sie nichts. Wenn es um die Verbrechen Israels geht, nennen sie es „Selbstverteidigung“.

Cem GĂŒrdeniz am 11. April 2025 in einem GesprĂ€ch mit dem US-Onlinemagazin The Cradle

Die Armenozid-erfahrene TĂŒrkei hat bereits hinter sich, worauf der neozionistische Staat Israel mit großem Elan zusteuert. Der in die Enge getriebene Netanjahu hat bislang viele zehntausend Menschenleben auf dem Gewissen und ĂŒbertrĂ€gt diese Schuld großzĂŒgig auf eine Bevölkerung, die diese Last ĂŒber viele Generationen abzutragen hat, so sie ĂŒberhaupt ĂŒberlebt. Historisch gibt es daraus aber kein Entrinnen, auch nicht durch Schönreden. Trotz zahlreicher VorwĂŒrfe betreibt die TĂŒrkei wĂ€hrenddessen eine Realpolitik, die es in sich hat. Das Land ist unangefochtener regionaler Machthaber, woran auch die sich wiederholenden israelischen Angriffe auf die Infrastruktur Syriens nichts Ă€ndern werden. Tel Aviv steht eine noch weit dĂŒsterere Zukunft bevor, als jetzt spĂŒrbar. Sicherheit im Judenstaat wird es nicht mehr geben, eher die totale Zerstörung, von innen wie von außen her.

Mustafa Kemal (AtatĂŒrk)
Mustafa Kemal (AtatĂŒrk)

Die EU will die TĂŒrkei als Pufferzone, als FlĂŒchtlingslager und als Quelle fĂŒr billige ArbeitskrĂ€fte. Sie wird uns niemals als Gleichberechtigte akzeptieren. Und wir sollten einem solchen Club nicht beitreten wollen. Unsere WĂŒrde ist nicht kĂ€uflich.

Cem GĂŒrdeniz am 11. April 2025 in einem GesprĂ€ch mit dem US-Onlinemagazin The Cradle

Da die TĂŒrkei die expansionistischen Bestrebungen des Netanjahu-Regimes nicht weiter hinzunehmen gewillt ist, entsteht im SĂŒden einer sich vom Westen her zersetzenden Natokratie ein gefĂ€hrliches Spannungsfeld, das das in einer Ukraine-Trotzphase befindliche westliche Europa auffĂ€llig deutlich ignoriert. Der Tanz auf dem Vulkan ist aber Bibis einzig verbliebene Option zur kontinuierlichen Aufschiebung seiner zahlreichen nationalen und internationalen Verfahren. Jedes Blutbad ist ihm lieber als der Blechnapf. Es kann indes nur eines geben: Eretz Israel oder das neuosmanische Reich. In beiden Konfigurationen sind Arabern Nebenrollen und Persern StehplĂ€tze zugedacht. Es scheint unwahrscheinlich, dass Trump einem Verkauf von F-35-Kampfflugzeugen an die TĂŒrkei im Wege steht, nur weil Ankara russische S-400-Systeme einsetzt – der weiteren AufrĂŒstung sind daher keine Grenzen gesetzt. Trump hat zu Putin keine BerĂŒhrungsĂ€ngste, woran auch jene Teile Europas, die wie Deutschland die neokonservative Zombiepolitik Bidens fortzusetzen gedenken, nichts Ă€ndern werden. Ein Krieg Israels gegen die TĂŒrkei ist vom Netanjahu-Regime nicht nur angesichts seiner immer zahlreicher werdenden Fronten konventionell nicht zu gewinnen. Das entstehende Chaos wĂŒrde Europa zudem dazu zwingen, eindeutig fĂŒr oder gegen Israel Position zu beziehen. Sicher ist: sollte sich die TĂŒrkei von AtatĂŒrk (Vater der TĂŒrken) und Avrupa Ana (Mutter Europa) gleichzeitig loslösen, wird vor allem der Wertewesten verlieren.

David Andel