Faruk al-Scharaa war vom 1. MĂ€rz 1984 bis zum 21. Februar 2006 Syriens AuĂenminister und direkt im Anschluss bis zum 19. Juli 2014 stellvertretender PrĂ€sident des von Baschar al-Assad angefĂŒhrten Landes. Er ist zudem Cousin ersten Grades jenes Mannes, der sich Abu Muhammad Al-Dschaulani nannte, dem Emir von HaiÊŸat Tahrir asch-Scham (HTS) und damit dem neuen FĂŒhrer Syriens, der drei Tage vor Faruks 86. Geburtstag die Macht in Syrien ĂŒbernahm.
Die erste Reise des Verfassers nach Syrien fand im Winter 1992 statt. Die Einreise gestaltete sich originell, denn in der Boeing 747 der PIA (Pakistan International Airways) erhielten jene, die nach Syrien einreisen wollten, ein Formular mit der Warnung, dass höhere Summen an Bargeld anzugeben wĂ€ren. Die Landung war heftig, die Piste schien fĂŒr das groĂe Flugzeug etwas zu kurz zu sein. Die mitgebrachten 2.500 DM hingegen interessierten den gelangweilten Beamten am Schalter ĂŒberhaupt nicht, weitere EinreiseformalitĂ€ten waren kaum wahrnehmbar. Dann folgte eine Fahrt mit dem Taxi nach Damaskus, in das sĂ€mtliche Freunde des Fahrers zuzusteigen schienen, mehrere Hoteloptionen zeigten und diskutierten und persönliche Einladungen zur Ăbernachtung in ihre HĂ€user aussprachen.
Im Prinzip sollte es aber von Damaskus aus direkt in die libanesische Hauptstadt Beirut weitergehen. Was war vom Land, das einstmals als die âSchweiz des Nahen Ostensâ galt und vor allem der Hauptstadt, die man wiederum mit Paris verglich, noch ĂŒbrig? Das wiederum per Taxi schon kurz spĂ€ter besuchte Beirut war leider derart zerstört und Damaskus zum GlĂŒck so verfĂŒhrerisch, dass schnell sĂ€mtliche Vorhaben vergessen waren. Es war der Anfang einer groĂen Liebe zu Syrien.
Damaskus war voller Ăberraschungen, ein riesiger Gemischtwarenladen aller nur denkbaren EindrĂŒcke. Da waren einerseits die immer noch zahlreich vorhandenen uralten US-amerikanischen StraĂenkreuzer-Taxis und andererseits der Pomp von Luxushotels wie dem Sheraton oder dem Le MĂ©ridien mit ihren Swimming Pools und opulenten Restaurants. Auf den DĂ€chern der HĂ€user gab es unzĂ€hlige Satellitenantennen zu beobachten, was auf ein gewisses MaĂ an Informationsfreiheit schlieĂen lieĂ. Die ĂŒberdachte Altstadt mit ihrer wunderbaren Vielfalt an GewĂŒrzen und Handarbeiten erschien endlos reichhaltig. Das Dach hatte Schusslöcher, durch die die Sonnenstrahlen wie leuchtende Pfeile auf den Boden stieĂen. Sie stammten noch von den französischen Besatzern. Die mobilen WasserverkĂ€ufer wirkten wie aus der Zeit herausgefallen und das Vanilleeis bei Bakdasch (ŰšÙÙÙŰŻÙۧێ), einer Eisdiele, die 1895 gegrĂŒndet wurde, war das beste der Welt. Man nahm dort irgendwo im fensterlosen und mit Neonlicht erhellten Innenraum Platz und musste nichts weiter tun. Kurz darauf landete je eine Portion Köstlichkeit auf dem Tisch vor allen Anwesenden. Die aĂ man und ging. Dann kehrte man zur Wiederholung des Ganzen gleich wieder um âŠ
Alles in Damaskus schien so viel besser als in Kairo (dem Geburtsort des Verfassers). Die alten HĂ€user und Villen wirkten wesentlich gepflegter, es schien eine echte Stadtplanung zu geben. Die Menschen gaben sich gemĂŒtlicher, umgĂ€nglicher und warmherziger â man kam schnell ins GesprĂ€ch. In einem Freiluft-CafĂ© neben dem Hidschas-Bahnhof saĂ der Verfasser mit einem jungen Studenten und einem alten Journalisten mit dicker Hornbrille stundenlang zusammen. Der Journalist meinte, er habe ĂŒberhaupt keine Probleme bei der AusĂŒbung seiner Arbeit, der junge Student wiederum bereitete sich auf ein Studium in Kanada vor und war voll des Lobes fĂŒr Hafis al-Assad.
Aleppo war nicht minder eindrucksvoll, die Stadt wirkte gleichzeitig sehr alt und jung. Die Bewohner des industriellen Zentrums des Landes waren auffĂ€llig jung. Die Werbetafeln russischer Unternehmen an den HĂ€userwĂ€nden hingegen muteten wie eine Zeitreise ins Kairo der Sechziger an. Die erste Begegnung mit dem undurchschaubaren Labyrinth der höher gelegenen Altstadt blieb ein unvergessliches Erlebnis. Das staatliche Museum mit seiner Abteilung fĂŒr moderne Kunst wusste mit seinem Reichtum zu verfĂŒhren. Es war immer alles zu viel und die Zeit des Aufenthalts stets zu kurz.
Ăber die Jahre folgten weitere Aufenthalte in Syrien, der letzte 2005. Jeder Abstecher war ein Abenteuer fĂŒr sich, keine Urlaubsfahrten, sondern Reisen. Selbst geheimnisvolle Geschichten alter Familienbekanntschaften wie Fritz Grobba fielen dem Verfasser irgendwie in den SchoĂ, viele davon kaum zu glauben. Das Land strotzte vor Geschichten und seine Bevölkerung verhielt sich unberechenbar herzlich, jeder Abschied fiel schwer wie der Verlust eines guten Freundes. Ob es wohl möglich wĂ€re, in Damaskus sein Zelt fĂŒr immer aufzuschlagen? Der Internet-Anschluss damals kostete 200 US-Dollar monatlich, die Komplikationen fĂŒr einen auslĂ€ndischen Journalisten waren immer noch abschreckend.
Die alte Garde tritt ab
Die Reden Hafis al-Assads vor dem Parlament dauerten viele Stunden, der Beifall der Anwesenden war eine ausnahmslos ĂŒberzeugende Darstellung. Er hielt Staatsbesuchern aus dem Westen lange Standpredigten ĂŒber die endlose Verkettung von Ungerechtigkeiten, die sich aus dem Abkommen des Briten Mark Sykes und des Franzosen François Georges-Picot ergaben. Wer ihn schĂ€tzte, der sprach von Hafis al-Assads hoher Aufmerksamkeit, dessen analytischen FĂ€higkeiten und seinem besonderen Talent, kaum berechenbar zu sein. Man sagte ihm die oftmalige Verwendung des sogenannten Hamburger-Tricks nach, wonach er sinnbildlich GesprĂ€chspartner jeweils glauben lieĂ, sie hĂ€tten ein vollwertiges Mahl erhalten, sie dann aber feststellen mussten, dass zwischen den beiden Brotscheiben vor allem Luft war.
Der unerwartete Tod des zur Nachfolge des Machthabers vorgesehene Sohnes Basil al-Assad wurde als gefĂ€hrliches Machtvakuum empfunden. Der nicht angeschnallte Autonarr war am 21. Januar 1994 auf dem Weg in den Skiurlaub und raste mit 240 Stundenkilometern auf der Autobahn von Damaskus zum Flughafen bei schlechten SichtverhĂ€ltnissen gegen eine Leitplanke. Dieselbe Strecke wurde ĂŒber die Jahre oftmals gesperrt und diente ihm dann zur Austragung von Autorennen.
Fallschirmspringer Basil hatte eine sowjetische MilitĂ€rakademie absolviert und in einer schnellen Eingreiftruppe der Syrischen Armee gedient. Unter den vier Söhnen Hafis al-Assads brachte nur er die Voraussetzungen mit, nach dem Tod des Vaters Armee und Land zu fĂŒhren. Der einzig andere zuverlĂ€ssige Stammhalter sollte dem Patriarch zufolge ausgerechnet jener junge Mann sein, der sich im entfernten London fĂŒr eine Karriere im Bereich humanitĂ€rer Hilfe entschieden hatte, der spĂ€tere Augenarzt Baschar. Tochter Buschra war ihrem Vater zwar viel nĂ€her und Ă€hnlicher. Noch sollte Syrien aber nicht bereit fĂŒr eine Frau an der Spitze des Staates sein.
Hafis al-Assad starb am 10. Juni 2000 inmitten eines TelefongesprĂ€chs mit dem libanesischen MinisterprĂ€sidenten Salim al-Huss an einem Herzinfarkt im Alter von 69 Jahren, der durchschnittlichen Lebenserwartung eines Syrers. Auf fast 30 Jahre Alleinherrschaft folgten 40 Tage Staatstrauer. Beigesetzt wurde der Mann mit dem kantigen Kopf eines Nussknackers neben seinem Sohn Basil in einem Mausoleum in der westsyrischen Kleinstadt Kardaha. Der Tod des ewig misstrauischen und fortwĂ€hrend berechnenden Staatsoberhauptes beendete eine weitere sĂ€kulare arabische Diktatur alter PrĂ€gung. Er fĂŒhrte Syrien in den Oktoberkrieg von 1973, in die Invasion des Libanon im Mai 1976 und unterstĂŒtzte die USA 1990 mit 20.000 Mann bei der Verteidigung Saudi-Arabiens gegen den Irak. Die sozialistisch-laizistischen Baath-Parteien des Irak und Syriens waren seit Jahrzehnten zerstritten.
Baschar kehrte 1994 als prĂ€destinierter Nachfolger seines Vaters ins Land zurĂŒck, wurde durch die MilitĂ€rakademie getrieben, Kommandant der PrĂ€sidentengarde, ĂŒbernahm erste diplomatische Aufgaben und machte sich fĂŒr eine stĂ€rkere BekĂ€mpfung der Korruption sowie gröĂere Offenheit des Landes stark. Noch unter dem starren Diktat des gesundheitlich bereits stark angeschlagenen Vaters setzte ab Mitte der Neunziger eine unerwartete Liberalisierung der gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse ein.
In den CafĂ©s saĂen nun wie selbstverstĂ€ndlich auch unverschleierte Frauen und die Jugend in Damaskus war zunehmend weniger von jener in Beirut zu unterscheiden. Wer Geld hatte, zeigte es und auch in den groĂen traditionellen Restaurants der Stadt prahlte abends schon mal eine Flasche Whisky auf dem Tisch. Obgleich Syrien von einer alawitischen Minderheit regiert wurde, ist es bis heute Heimat zahlreicher Religionen und Ethnien. Ein kleinkarierter konfessioneller BĂŒrgerkrieg wie im Libanon blieb bislang aus.
Auf Fremde war man jetzt neugieriger als je zuvor, die stete Angst von irgendwem irgendwo belauscht und denunziert zu werden, nahm ab. Immer wieder kam es zu kurzen GesprĂ€chen mit den wenigen Besuchern aus dem Ausland â in einer Schalterhalle, in einem Museum, Bahnhof oder Restaurant. Englisch hatte das Französisch der ehemaligen Besatzer als Lingua franca abgelöst und die jungen Syrer beherrschten es immer besser. Das Land erschien wie aus einem Dornröschenschlaf erwacht, war bereit zum Aufbruch an neue Ufer.
Die enttÀuschte Hoffnung
Damit Baschar auf seinen Vater folgen konnte, musste das Mindestalter des PrĂ€sidenten per VerfassungsĂ€nderung von 40 auf 34 Jahre herabgesetzt werden. Die mit dem Generationswechsel innerhalb der Assad-Dynastie einhergehenden VerĂ€nderungen waren zahlreich. WĂ€hrend ehemals die Aufnahme auch nur eines einzigen Fotos zur falschen Zeit am falschen Ort zu groĂen Auseinandersetzungen mit schwer bewaffneten MilitĂ€rs fĂŒhren konnte und griesgrĂ€mige Polizisten einfach so auf offener StraĂe ein schreiendes Kind krachend ohrfeigten, standen Baschar und Asma al-Assad fĂŒr eine nie dagewesene AtmosphĂ€re des Umbruchs.
Das fotogene Paar hatte Personenkult nicht nötig. Die ĂŒbergroĂen Bilder von Hafis (ohne Sonnenbrille) und Basil (mit Sonnenbrille) verschwanden nach und nach von den Hausfassaden und die uralten Taxis wurden durch neue gelbe Fahrzeuge iranischer Herkunft ersetzt. Ăberall schossen LĂ€den westlicher Marken, moderne Lokale, Milchbars und orientalische Fast-Food-Varianten aus dem Boden. Die unerwartete FuĂgĂ€ngerzone von Damaskus hĂ€tte auch irgendwo in Europa sein können. Abends ging man auswĂ€rts einen trinken oder etwas essen, die Lokale waren voll, die kulturellen AktivitĂ€ten vielfĂ€ltig.
Die Jugend kleidete sich auffĂ€llig anders und eine dem steten Wechsel unterworfene neue modische UniformitĂ€t war nicht zu verleugnen. Gleichzeitig waren befremdlich viele verschleierte Frauen zu sehen, was jedoch als Freiheit des Ausdrucks verstanden werden sollte. Selbst die BBC schilderte die syrische Gesellschaft noch 2010 als besonders vielfĂ€ltig. In der fĂŒnfteiligen Reihe Syrian School fiel das Wort Diktatur kein einziges Mal. Stattdessen sah man weltoffene Schulleiterinnen, rappende Teens aus PalĂ€stina, vom US-Bombenterror heimgesuchte irakische Jugendliche mit Integrationsproblemen und glĂ€ubige junge MĂ€dchen, die von einer Karriere als Astronautin trĂ€umten.
Nach und nach aber wurde deutlich, dass der Wechsel nur ein schöner Schein war. Der Personenkult kehrte zurĂŒck, diesmal war es der wenig ansehnliche Augenarzt, der sich auf den omniprĂ€senten Bildern befand. Es stellte sich heraus, dass Baschar al-Assad nicht aus dem Schatten seines Vaters treten und dauerhaft fĂŒr echte VerĂ€nderungen sorgen konnte. Zu sehr stand er unter den ZwĂ€ngen des Auslands, des alten Regimes wie auch unter dem Einfluss seiner wenig toleranten Mutter Anisa und seiner Schwester Buschra. Baschars ĂŒberwestlich auftretender Frau Asma wurde vor allem innerhalb der Familie mit Skepsis begegnet, der Aufbruch wurde immer mehr zum Abbruch.
Am 15. MĂ€rz 2011 kam der Anfang vom Ende. Auf eine Verhaftung mehrerer Kinder folgten friedliche Demonstrationen auf offener StraĂe. Diese trafen jedoch nicht auf das VerstĂ€ndnis Baschars, sondern auf bewaffnete PolizeikrĂ€fte, spĂ€ter dann die Armee. Es kam zu hunderten Toten, die Situation schaukelte sich hoch. Der Augenarzt hatte sich dazu entschieden, fĂŒr die Belange seines Volkes blind zu sein. Er griff mit harter Hand durch. Ein jahrelanger BĂŒrgerkrieg mit zahlreichen Todesopfern, permanenter völkerrechtswidriger Einmischung von Seiten Israels, der TĂŒrkei und den USA und damit einhergehende scharfe Sanktionen waren der dafĂŒr zu zahlende Preis. Die beiden einzigen Staaten, die Syrien offiziell um Hilfe zur Wiederherstellung der Kontrolle ĂŒber das Land ersuchte, waren der Iran und Russland.
Die Revolution
Fast 15 Jahre lang wurde Syrien als internationaler Paria behandelt. Nicht zuletzt durch das schwere Erdbeben am 6. Februar 2023 geriet der Wiederaufbau des Landes zu einem Projekt der Unmöglichkeit, Geld war nicht mehr vorhanden. Die einzigen Syrer, denen es noch gut ging, waren die al-Assads. Erst in den letzten Monaten wurden die Beziehungen zur arabischen Liga wieder normalisiert â es sollte das letzte AufbĂ€umen eines Syriens sein, das es seit dem 8. Dezember nicht mehr gibt.
Ăber Achmad Hussain al-Scharaa ist im US-gefĂŒhrten Westen vor allem bekannt, dass er von diesem als Terrorist gesucht wird. Die stellvertretende israelische AuĂenministerin Sharren Haskel beschuldigte ihn wenig ĂŒberraschend als âWolf im Schafspelzâ und hielt wĂ€hrenddessen medienwirksam eine Bildcollage hoch, die ihn als Mitglied diverser dschihadistischer Organisationen zeigt.
Es ist wichtig, nicht auf den Versuch hereinzufallen, die Dschihadisten in Syrien zu beschönigen. Wir wissen, wer und was sie wirklich sind, auch wenn sie ihre Namen Ă€ndern, und wir wissen, wie gefĂ€hrlich sie fĂŒr den Westen sind.
Die stellvertretende israelische AuĂenministerin Sharren Haskel am 17.12.24 auf einer Pressekonferenz
Die Lektionen des Völkerrechts-SonderschĂŒlers Israel sind bekanntlich von minderem Wert und finden nur noch in illustren Kreisen schwermĂŒtiger deutscher ProvinzialitĂ€t Anklang. Das mit dem geĂ€nderten Namen wusste lĂ€ngst die ganze Welt aus Interviews und nicht nur wenige erkorene Vertreter des auserwĂ€hlten Volkes. Der nom de guerre al-Scharaas Al-Dschaulani (ۧÙŰŹÙÙۧÙÙ) verweist dabei auf die Herkunft seiner Familie. Der Golan oder Dschaulan (ۧÙŰŹÙÙۧÙ) ist der Geburtsort Achmads Vaters Hussain Ali al-Scharaa. Hussain wurde 1946 in Fiq im syrischen DĂ©partement Kunaitira geboren, dessen Hauptstadt die gleichnamige Kunaitira war. Jene Kunaitira wohlgemerkt, deren völlige Zerstörung 1967 von der Landentwicklungsverwaltung des JĂŒdischen Nationalfonds durchgefĂŒhrt wurde, um dort spĂ€ter die Siedlung Keshet zu errichten. Zuvor wurden die GebĂ€ude systematisch geplĂŒndert und die aufgefundenen GegenstĂ€nde anschlieĂend an israelische Abnehmer verĂ€uĂert.
Heute ist die Stadt nicht wiederzuerkennen. Die HĂ€user, deren DĂ€cher auf dem Boden liegen, sehen aus wie Grabsteine. Teile der TrĂŒmmer sind mit von Baggerspuren zerfurchter frischer Erde bedeckt. Ăberall liegen Teile von Möbeln, weggeworfene KĂŒchenutensilien, hebrĂ€ische Zeitungen aus der ersten Juniwoche, hier eine zerfetzte Matratze, dort die Sprungfedern eines alten Sofas. Auf den wenigen Mauerresten, die noch stehen, verkĂŒnden hebrĂ€ische Inschriften: «Es wird eine weitere Runde geben!» oder «Ihr wollt Quneitra, ihr bekommt es zerstört!»
aus Golan’s capital turns into heap of stones, The Times vom 10 Juli 1974, Seite 8
Die Familie des Vaters war vergleichsweise wohlhabend, sie verfĂŒgte ĂŒber den GroĂteil der LĂ€ndereien des Ărtchens Fiq. GroĂvater Muhammad Khalid al-Scharaa kĂ€mpfte noch als AnfĂŒhrer des Widerstandes gegen die französischen Kolonialisten. Hussain al-Scharaa war AnhĂ€nger des als Nasserismus bezeichneten panarabischen Nationalismus, was ihm zum Feind der Baathisten Syriens machte, die den Bruch zum dominanten Ăgypten suchten und 1961 zu seiner Verhaftung fĂŒhrte. Er konnte sich aus dem GefĂ€ngnis befreien, floh nach Jordanien und wurde erneut verhaftet. SchlieĂlich wies man ihn aus.
Die Liebe zu PalÀstina zum Beispiel, der Wunsch, die PalÀstinenser im Allgemeinen zu verteidigen, dieser Gedanke wurde in unserem Haus rund um die Uhr gesÀt.
Achmad al-Scharaa alias Abu Muhammad Al-Dschaulani in einem Interview vom Februar 2021
Er studierte im Irak an der UniversitĂ€t von Bagdad Politik- und Wirtschaftswissenschaft, unterbrach sein Studium infolge der israelischen Besatzung des Golans und schloss sich kurzzeitig in Jordanien den palĂ€stinensischen Fedajin von Arafats PLO an. Im Anschluss daran beendete er sein Studium in Bagdad. Als er 1971 nach Syrien zurĂŒckkehrt, wird er erneut verhaftet. Der neue Herrscher Syriens war Hafis al-Assad und kein Freund der PLO. SchlieĂlich wird er freigelasssen, bewirbt sich um einen Parlamentsitz und scheitert. AnschlieĂend geht er nach Saudi-Arabien und arbeitet fast zehn Jahre im Erdölsektor. Sohn Achmad (der spĂ€ter als Terrorist gesuchte Befreier Syriens) wurde 1982 im saudischen Riad geboren. 1989 kehrt die Familie nach Syrien zurĂŒck und der kĂŒnftige RebellenfĂŒhrer wĂ€chst im Villenviertel al-Mazzah (Ù±ÙÙÙ ÙŰČÙÙŰ©) im SĂŒdwesten von Damaskus auf. Seine Familie, so gibt er vor, habe allerdings eher der Mittel- als der Oberschicht angehört.
Die palÀstinensische Intifada, die in den Jahren 2000 und 1999 im benachbarten PalÀstina stattfand, hat mich stark beeinflusst.
Achmad al-Scharaa alias Abu Muhammad Al-Dschaulani in einem Interview vom Februar 2021
Dort trifft er in einer Moschee einen ârechtschaffenen Ă€lteren Scheichâ und findet mit dessen Hilfe zu Gott, widmet sich schlieĂlich mit Leib und Seele dem Studium des Koran. Im Gegensatz zu seinem Vater sieht er sich dabei zunĂ€chst als Muslim und dann erst als Araber. Arabische Nationalisten, meint er, sĂ€hen sich zuerst als Araber und erst dann als Muslime. 2003 begibt er sich wenige Wochen vor Ausbruch des Angriffes der USA samt militĂ€rischer Gefolgschaft in den Irak und wird dort mehrfach inhaftiert, landet unter anderem im berĂŒchtigten GefĂ€ngnis von Abu Ghraib. Er verbringt insgesamt fĂŒnf Jahre in Gefangenschaft.
Die SchlĂŒsselbotschaft, die wir vermitteln wollen, oder die die Menschen verstehen sollen, ist einfach: Das Volk wollte einen Herrscher und ein Regime Ă€ndern, und dieser Tyrann und dieses Regime wollten eine ganze Bevölkerung Ă€ndern. Einen Herrscher zu Ă€ndern ist viel einfacher als eine ganze Bevölkerung zu Ă€ndern.
Achmad al-Scharaa alias Abu Muhammad Al-Dschaulani in einem Interview vom Februar 2021
Die konkrete Bekanntschaft mit dem am 7. Juni 2006 von den USA gezielt getöteten Islamisten und al-Kaida zugeordneten Abu Mussab az-Zarkuawi bestreitet er und spricht von sich als einfachem Soldaten, der az-Zarkuawi aber wie viele andere KĂ€mpfer auch gefolgt wĂ€re. Die Organisation des Widerstandes im Irak sei dezentraler Natur gewesen, was gleichzeitig eine ihrer gröĂten StĂ€rken war. 2006, wĂ€hrend der heftigen KĂ€mpfe zwischen Sunniten und Schiiten im Irak habe er im GefĂ€ngnis gesessen und wĂ€re von jeglicher Kommunikation abgeschnitten worden. WĂ€hrend der Gefangenschaft sei ihm die Rolle der Verbreitung religiöser Ideologie zugefallen, wodurch er sich einen gewissen Ruf erarbeitet habe. Mit seiner Lehre stehe er im Gegensatz zu jenen, fĂŒr die die Vorgehensweisen der radikalen Islamisten gemeinhin bekannt sind und die eher aus dem Umfeld des ehemaligen irakischen Polizeiapparates stammten.
Aus den gemischten Erfahrungen im Irak klĂŒger geworden, kehrt Achmad al-Scharaa nach Syrien zurĂŒck und setzt dort einen selbst erstellten fĂŒnfzigseitigen Plan zur MachtĂŒbernahme unter BerĂŒcksichtigung der komplexen geografischen, politischen und religiösen VerhĂ€ltnisse um, den er spĂ€ter aber verliert. Die Al-Nusra-Front âzur UnterstĂŒtzung fĂŒr das levantinische Volkâ entsteht, spĂ€ter wird daraus HTS (HaiÊŸat Tahrir asch-Scham = Komitee zur Befreiung der Levante). Hier sei angemerkt, dass der Begriff Levante fĂŒr die gesamte Region von Syrien bis PalĂ€stina verstanden werden sollte und die Unruhe des Judenstaats erklĂ€ren dĂŒrfte.
Die anfĂ€nglichen Mitstreiter al-Scharaas bestehen lediglich aus sechs Freiwilligen, seine Barmittel betragen rund 50.000âŹ, wovon er Waffen kauft, die, wie sich spĂ€ter herausstellen sollte, nicht mehr funktionstĂŒchtig sind. Dennoch ist er in der Lage, schon im ersten Jahr 5.000 weitere KĂ€mpfer zu rekrutieren und auch an zusĂ€tzliches Geld zu kommen. Von den ehemaligen sechs Mitstreitern hat, wie er anmerkt, nur einer ĂŒberlebt. Im Verlauf der weiteren KĂ€mpfe kommt es zum Bruch mit dem Islamischen Staat und dessen im Oktober 2019 im Rahmen eines US-MilitĂ€reinsatzes in Syrien umgekommenen AnfĂŒhrer Abu Bakr al-Baghdadi.
Von den USA erwartet er nichts auĂer einem offenem Ohr, kaum aber VerstĂ€ndnis. Er wĂ€re kein Feind der USA und habe auch nie US-amerikanische Gefangene gemacht, streitet ab, an Folterungen in irgendeiner Form beteiligt gewesen zu sein und verweist an humanitĂ€re Organisationen zur ĂberprĂŒfung. Er ist nicht optimistisch, was die US-Regierung und ihre Politik anbetrifft. Interessant ist sein Standpunkt ĂŒber die anderen KrĂ€fte des syrischen Widerstandes, etwa ĂŒber die Ausschreitungen von ISIS oder der FSA (Freie Syrische Armee), die er als Gangster, Diebe und Banditen bezeichnet. Da habe es dann Auseinandersetzungen gegeben, die aber beendet worden wĂ€ren.
Im groĂen Ganzen ist das syrische Chaos fĂŒr Achmad al-Scharaa letztlich alles Folge einer nicht vorhandenen zentralen revolutionĂ€ren Steuerung, was zu zahlreichen Problemen auf sozialer, institutioneller, militĂ€rorganisatorischer und wirtschaftlicher Ebene in den befreiten Gebieten gefĂŒhrt habe. Hier sieht er auch die Hauptaufgabe des Islam, zumindest in seiner Interpretation davon. Russland habe sich nicht viel um das al-Assad-Regime geschert und lediglich an die StrĂ€nde des Mittelmeeres âmit all seinem Erdgas und seinen warmen GewĂ€ssernâ kommen wollen. Vom Iran meint er, dieser habe weit in die Geschichte zurĂŒckreichende âgroĂe Interessenâ an der Region.
ZunĂ€chst einmal wĂŒrde jeder, der zu dieser Zeit in der islamischen Welt, in der arabischen Welt lebte, lĂŒgen, wenn er sagte, er sei nicht glĂŒcklich gewesen, denn die Menschen spĂŒrten die Ungerechtigkeit der Amerikaner durch ihre UnterstĂŒtzung der Zionisten, ihre Politik gegenĂŒber den Muslimen im Allgemeinen und ihre klare und starke UnterstĂŒtzung der Tyrannen in der Region.
Achmad al-Scharaa alias Abu Muhammad Al-Dschaulani in einem Interview vom Februar 2021
Es war ein langer und steiniger Weg von den patriarchalischen Stammesstrukturen vor dem Ersten Weltkrieg zu den sozialistischen SĂ€kularstaaten des Nahen Ostens, die auf den Zweiten Weltkrieg folgten. Abgelöst wird dies nun nicht nur in Syrien, dem Irak, PalĂ€stina oder Ăgypten, sondern auch zunehmend in Israel und den USA von religiösem Fundamentalismus, der wiederum von dem, was sich als Wertewesten missversteht, im Iran bekĂ€mpft wird.
Die neue Flagge Syriens erhielt als Zeichen der Revolution einen zusĂ€tzlichen Stern und entspricht damit wieder der UnabhĂ€ngigkeitsflagge von 1932. Die drei Sterne sind nun wieder rot und der obere Streifen grĂŒn. In der Assad-Republik wurde seit 1980 die Flagge der nicht mehr existierenden Vereinigten Arabischen Republik mit einem roten statt grĂŒnen Balken und zwei grĂŒnen statt roten Sternen verwendet, die auch Ăgypten bis 1984 verwendete. Schon jetzt werden die Flaggen der Verkehrsflugzeuge der seit Jahren zunehmend unbeweglichen Syrian Air ĂŒberarbeitet. Der Gedanke zĂ€hlt.
HĂ€tten wir Flugzeuge gehabt, hĂ€tten wir Flugzeuge eingesetzt. HĂ€tten wir Artillerie als Ersatz fĂŒr das Martyrium gehabt, hĂ€tten wir diese BrĂŒder gerettet und diese Waffen eingesetzt.
Achmad al-Scharaa alias Abu Muhammad Al-Dschaulani in einem Interview vom Februar 2021
Die Situation in Syrien wirkt unverĂ€ndert so, als wĂ€ren selbst deren Drahtzieher in Istanbul, Tel Aviv und Washington vom Ergebnis ĂŒberrascht. Anders lĂ€sst sich kaum erklĂ€ren, dass das mit der Sonderoperation âPfeil von Baschanâ in der Ukraine willkommene Waffenarsenal Syriens gerade vom neozionistischen System Netanjahu zerstört wurde, wozu das NATO-Mitglied TĂŒrkei folglich den Weg geebnet hĂ€tte. Die MerkwĂŒrdigkeit des ganzen Unterfangens weiĂ zu beeindrucken. Fortan soll wohl Glaube Berge versetzen.
David Andel