Während dem „Fête de la Musique“ in Brüssel hatte der geneigte Melomane mit Sinn fürs Exotische erstmals seit längerer Zeit wieder Gelegenheit, dem Nahen Osten einen Besuch abzustatten. Neben der türkischen Band Lalalar und Jawhar, einer beeindruckenden magrebinischen Version von Nick Drake, war es vor allem der wütende Charme von Al-Qasar, der zu verführen wusste.
Während man sich bei vielen Bands mittlerweile fragen muss, was das Ganze abseits von saitenzupfenden Barden-Klonen oder dem hundertsten Auto-Tune-Gejammer überhaupt soll, kam dieser Eindruck bei Al-Qasar zu keinem Zeitpunkt auf. Der gepflegt-harte elektronische Rock aus Frankreich für Arabien wusste vom ersten Lied an zu beeindrucken und nahm einen mit auf eine zeitgemäße Reise in das chaotische Labyrinth von Kairo oder die jugendliche Erschöpfung des gepeinigten Beiruts.
Was ist mit all der Energie, all den Ideen, all den Visionen passiert, die von den viel zu vielen, viel zu jungen Bewohnern des Nahen Ostens ausging, schnell aber in den korrupten Kanälen alter und neuer Macht versickerte? Sie lässt sich tagtäglich in den Cafés, den Nachtclubs, der bildenden Kunst, der Literatur und Musik einer neuen arabischen Generation wiederfinden, der man aber Tag für Tag ihre Möglichkeiten, ihre Zukunft und ihren Frieden raubt und die dennoch bis jetzt und vielleicht noch eine ganze Weile den Kopf stolz über dem Wasser hält.
Al-Qasar lässt einen diesen Kampf spüren, auf die angenehmste Weise. Man kann ein Bad in der Wut jener nehmen, denen man immer weniger gibt und immer mehr nimmt. Wenn sie das Geld haben, dann können sie vielleicht studieren und ihr Land verlassen, werden aber entwurzelt und finden ihre Ursprünge andernorts kaum wieder. In Ägypten werden die alten Zentren sich selbst überlassen und durch Trabantenstädte ersetzt, in denen man womöglich als Bankangestellter oder hoher Beamter komfortabel leben kann, sich aber nichts mehr entwickelt, was kulturell noch von Belang sein könnte.
In „El-Asliyyin“ (2017) von Marwan Hamed lernen wir den Alltag der Trabantenstädte Ägyptens kennen und werden von einem abenteuerlichen modernen Märchen in den Glauben versetzt, dass auch dort etwas möglich wäre, das über absolute Langweile, Routine und Kaufkraft als Maß aller Dinge hinausgehen könnte. Das bleibt aber nur eine Illusion, denn für junge Araber ist es auf dieser Welt vor allem düster. Der 2018 verstorbene ägyptische Autor Ahmed Khaled Towfik ließ uns in seinem Roman „Utopia“ einen Blick in eine Zukunft jener Aussichtslosigkeit werfen, was passieren könnte, wenn eben nichts passiert, um dies zu verhindern. Wer im Exil lebt, findet weder im Land seiner Ahnen noch im Land seines Aufenthaltes oder gar seiner Geburt mehr ein Zuhause, das als Basis für ein Leben als freier, denkender und Werte schaffender Mensch dienen könnte.
Eines der Lieder des Albums „Who Are We?“ (2022) heißt „Barbès“. „Der Boulevard Barbès, der von der Pariser Stadtverwaltung als wenig komfortabel, sehr laut und verschmutzt angesehen wird, wurde vor kurzem einer umfassenden Neugestaltung unterzogen.“ entnehmen wir Wikipedia. Es war aber auch der Geburtsort von „Al-Qasar“, einer Band, die als Modell für die perfekte moderne musikalische Fusion aus Orient und Okzident gelten muss, wofür wir dankbar sein sollten.
Was sich in Frankreich zurzeit an Wut und Zerstörung entlädt und worauf eine mit permanentem militärischen Irrsinn beschäftigte Politik keine anderen Antworten als brutale Staatsgewalt vorzuweisen hat, kann mit der Musik von Al-Qasar auch gehört und genossen werden. In Brüssel war es am Frühsommertag des 23. Juni zum Glück nicht sehr heiß, denn im Zelt des Parc du Cinquantenaire wären sonst vielleicht auch die Fetzen geflogen – oder nicht. Der Besuch des Orients kam an diesem Abend in Form verführerischer Klänge, jugendlicher Schönheit und sehr viel kreativer Wut. Ein musikalischer Rausch aus spontanem Tanz, der Ekstase des Augenblicks und immer noch dem Keim der Hoffnung. Brüssel konnte sich glücklich schätzen, dabei gewesen zu sein.
David Andel