Blick in die Glaskugel

Nicht AT&T, sondern Apple

Bei manchen Frauen ist Tom Selleck neben Omar Sharif ein recht beliebter Schnurrbart. Manche Männer denken beim Namen Selleck eher an einen knallroten Ferrari sowie Higgins, den Spaßverderber. Kaum jemand in Europa käme aber auf den Gedanken, Tom Selleck mit irgendwelchen technologischen Zukunftsvisionen in Zusammenhang zu bringen – das alleine bleibt Privileg derer, die in den zweifelhaften Genuss US-amerikanischen Werbefernsehens kommen.

Manchen Schauspielern hängt ihr Ruf als Werbeträger noch jahrelang nach. In Deutschland fällt einem dazu beispielsweise Manfred Krug ein, der einem sowohl mit der Advocard als auch der T-Aktie lange auf die Nerven ging. International ist es wohl vor allem George Clooney, den man mittlerweile zwangsläufig mit löslichem Kaffee in Verbindung bringen muss. In den USA scheint eine Werbekampagne aus den frĂĽhen Neunzigern in den Köpfen hängen geblieben zu sein, in denen Magnum-Darsteller Tom Selleck im Auftrag von AT&T seinem Publikum darlegte, was eines Tages alles technisch möglich sein wird. Die US-Website DVICE hat sich vor kurzem nun den SpaĂź erlaubt, die 1993 erfolgten Aussagen des Visionärs Tom Selleck auf ihren heutigen Realitätsgehalt hin zu ĂĽberprĂĽfen. Wir tun ebensolches aus einer etwas Apple-zentrischeren Perspektive heraus.

„Haben Sie schonmal ein Buch aus tausenden Meilen Entfernung ausgeliehen?“
Ja, dank iBooks kann man eine ganze Menge BĂĽcher sogar immer mit sich herumtragen und auch lesen, zumindest bis der Akku leer ist.

„Haben Sie jemals das Land durchquert, ohne anzuhalten und nach dem richtigen Weg zu schauen?“
Auch das, die GPS-Chips in iPad und iPhone sowie eine große Auswahl an Software-Navigationslösungen bieten jeden nur erdenklichen Komfort. Und seit dem iPhone 4 wird der GPS-Chip nicht nur heiß, sondern funktioniert auch. Entsprechende Karten oder eine funktionierende mobile Datenverbindung einmal vorausgesetzt, verirrt sich fortan niemand mehr auf unseren Straßen – gleichgültig ob per Auto, Fahrrad oder zu Fuß.

„Haben Sie jemals jemandem ein Fax geschickt – vom Strand aus?“
Das erste Telefaxgerät erfand der am 11. März 2002 im Alter von hundert Jahren verstorbene Rudolf Hell anno 1929. Seither gab es u. a. einen mörderischen Weltkrieg, ein wirtschaftliches Wunder, eine sexuelle Revolution, eine weibliche Emanzipation, eine unmenschliche Globalisierung, einen technologischen und einen börslichen Boom – höchste Zeit also auch über eine Ablösung des altmodischsten aller Übertragungsverfahren von Bildern über herkömmliche Telefonleitungen nachzudenken. Gut, es geht, auch vom Strand aus, aber es muss zum Glück nicht mehr sein.

„Haben Sie jemals eine Maut bezahlt, ohne die Fahrt zu verlangsamen?“
Wir ahnen, was mit dem RFID-Chip in kommenden iPhone-Generationen alles möglich sein wird und können uns auch vorstellen, dass der eine oder andere damit sein Unwesen treiben wird.

„Haben Sie jemals Konzertkarten an einem Geldautomaten gekauft?“
Warum um alles in der Welt sollte das jemand tun wollen? Jeder Besuch eines Geldautomaten ist ein paranoides Drama in vier Akten. Erster Akt: Ist die Tastatur auch wirklich echt oder aufgeklebt? Zweiter Akt: Gehört die Überwachungskamera an der Decke der Filiale dem Geldinstitut oder einer osteuropäischen kriminellen Vereinigung? Dritter Akt: Ist die ältere Dame hinter einem ein verkleideter Schwerkrimineller oder will sie nur einen Kontoauszug? Vierter Akt: Wurden Karte oder Geld bei all dem Stress womöglich im Automaten vergessen? Richtig, mehr als nötig möchte niemand Zeit am Geldautomaten verlieren. Konzertkarten gibt es mittlerweile überall im Netz, sofern noch Plätze frei sind.

„Haben Sie jemals einen Säugling von einer Telefonzelle aus gewickelt?“
Nein, und besonders verlockend ist das ehrlich gesagt auch nicht. Der Werbespot meint wohl die mittlerweile hinlänglich bekannte Videotelefonie – und die ist spätestens seit FaceTime auch von fast überall aus möglich. Der Weg in eine selten gewordene, oft defekte und meistens auch nicht sehr saubere Telefonzelle bleibt einem somit erspart.

„Haben Sie jemals Türen mit dem Klang Ihrer Stimme geöffnet?“
Möglich wäre es, nur wollen würde man es kaum. In ländlichen Gebieten mag das noch einen Sinn ergeben, in einer Großstadt würde der Klang der eigenen Stimme aber wohl im allgemeinen Lärm untergehen und die fragliche Tür einen schlicht nicht verstehen. Man stelle sich die verzweifelten Schreie der um Einlass bettelnden Haus- und Wohnungsbesitzer allerorten vor, die AT&T vorschnell Glauben schenkten und ihre Schlüssel zuhause ließen.

„Haben Sie jemals Ihre Patientenakte in Ihrer Brieftasche befördert?“
Den Hinweis auf die „Medizinische Gesundheitskarte“ erspart man sich in Deutschland besser. Eine von vielen lobbyistisch motivierten politischen Angelegenheiten, die ebenso dilettantisch wie autoritär durchgepeitscht werden sollte.

„Haben Sie jemals barfuß an einem Meeting teilgenommen?“
Gerüchteweise sind Pyjama-Tage bei Telearbeitern nicht unbeliebt. Im Falle eines Meetings per iChat AV lässt sich schnell ein Pullover überstülpen und damit gerade noch der Schein wahren – nur aufstehen darf man dann im Eifer des Gefechts halt nicht.

„Haben Sie jemals den Film, den Sie sehen wollten, genau dann gesehen, wann Sie es wollten?“
Ja, sofern er noch irgendwo verfügbar ist. Manche Filme aber sind über keinen Vertriebsweg mehr erhältlich, woran dann auch iTunes & Co. nichts mehr ändern können. Dank EyeTV und seiner recht ausgeklügelten Suchfunktionen tauchen zumindest die in den Archiven der TV-Sender befindlichen und zu nachtschlafender Zeit ausgestrahlten Filme irgendwann einmal erneut auf und können unmittelbar darauf natürlich angeschaut werden, sogar wann man will.

„Haben Sie spezielle Dinge von weit entfernter Stelle aus lernen können?“
Das fordert zwar ein gerüttelt Maß an Disziplin, aber es geht rein technisch völlig problemlos. Per iChat AV können sogar zwei Personen aus unterschiedlichen Kontinenten am selben Dokument arbeiten.

Fazit: Weitgehend klingen die achtzehn Jahre alten Werbeclips so als seien sie eine Beschreibung dessen, was man heute tagtäglich im Apple-Universum ohnehin tut und es noch nicht einmal mehr bemerkt. Und genau das ist auch der Fluch solcher Zukunftsvisionen – treten sie denn ein, hat man sie schon wieder vergessen. Was kommt morgen?

David Andel