Mandarinentanz

Das Ende der Mandarine

In den frĂŒhen Siebzigern gab es nichts anderes als Mandarinen – keine Clementinen, Minneolas, Satsumas, Kumquats und anderen Obstunfug in in kleiner gelber Form. Diese seit Jahrhunderten existierende klassische Frucht vermutlich chinesischer Herkunft hat einen feinherben, leicht sĂ€uerlichen Geschmack, der in hohem Maße erfrischend wirkt.

FĂŒr viele Kinderherzen standen damit die Wintermonate nicht nur fĂŒr Schneeballschlachten und Weihnachtsgeschenke, sondern auch fĂŒr den alljĂ€hrlich wiederkehrenden Triumphzug der gelben Frucht, die selbst die Orange in ihre Schranken wies. Sobald die ersten Mandarinen in die LĂ€den kamen, waren KĂ€lte, grauer Himmel und trockene Luft vergessen, konnte man sich in ein bequemes Sofa hinein kuscheln und zu einem guten Film die eine oder andere Frucht zu GemĂŒte fĂŒhren.

NatĂŒrlich kam es dann und wann einmal vor, dass Mandarinen entweder Kerne enthielten oder aber nicht besonders gut schmeckten, das war aber selten, sehr selten. Irgendwann dann in den spĂ€ten Siebzigern folgte ein beispielsloser VerdrĂ€ngungsprozess in unseren ObstgeschĂ€ften. Die Mandarine erhielt Konkurrenz von einer Ă€hnlich aussehenden Frucht namens Clementine. WĂ€hrend man sich anfangs noch das eine oder andere Mal dazu herabließ, auch dann und wann einmal die eher belanglos zuckrig-sĂŒĂŸ schmeckenden Neulinge zu kaufen, nur um schnell wieder zum unvergleichlichen Original zurĂŒckzukehren, wurde es ĂŒber die Jahre immer schwerer, ĂŒberhaupt noch Mandarinen zu finden.

Was heute oft das ganze Jahr ĂŒber verkauft wird, ist meistens alles andere als eine Mandarine. Selbst wenn Mandarine drauf steht, ist unter den teils zĂ€hen Schalen eine unsĂ€glich ĂŒberzuckerte Clementine verborgen, immer wieder mit Kernen, immer wieder insgesamt unappetitlich und alles andere als erfrischend. Die heute unertrĂ€glich oft gefĂ€lschte Frucht wirkt nur noch wie das Ergebnis eines jahrelangen Anpassungsprozesses an den Massengeschmack, zuckersĂŒĂŸ, banal, ohne jeden nachhaltigen Charakter, als sollte die Mandarine mit aller Gewalt auch jene zum Kauf verfĂŒhren, die sonst nur Cola und Chips konsumieren.

Nur wo ist sie hin, die Originalfrucht? Was hat man ihr angetan, in welches Exil getrieben? Gibt es sie ĂŒberhaupt noch? Ja, aber sie ist oft verdammt teuer geworden und versteckt sich in kleinen ObstlĂ€den abseits großer Kundenströme von Super- und WochenmĂ€rkten. Richtig, auch dort, wo man sie vermuten könnte, wird man regelmĂ€ĂŸig aufs Kreuz gelegt, denn selbst auf WochenmĂ€rkten werden Kunden immer wieder die ZuckerfĂ€lschungen aus der Retorte angedreht, wer weiß schon, ob Mandarine ĂŒberhaupt ein geschĂŒtzter Begriff ist. Und siehe da, so manches Mal schaffen es auch Satsumas geschmacklich interessant zu werden, wozu Clementinen oder Kumquats gewiss niemals fĂ€hig sein werden. Insgesamt aber ein trauriges Schicksal, das die Mandarine erleiden musste, aber vielleicht erlebt sie ja eines Tages eine Renaissance, feiert ein Comeback und zeigt all jenen Geschmacksverirrten, was es heißt, ein Original zu sein 


David Andel