GĂ€be es nichts auĂer Fernsehen als Tor zur Welt, wĂ€re der Kulturverlust aufgrund jener geistesstarren Unsympathen, die sich der Dummheitspflege widmen, betrĂ€chtlich. Und obgleich sich mittlerweile Konkurrenten allerorten finden, tritt das Medium seit Jahrzehnten nur immer primitiver auf. Wenn dann wider Erwarten ein Juwel namens âUtopiaâ auf den Bildschirmen erscheint, dann wirkt das fast schon wie Versehen.
Britische TV-Sender ermöglichen gegenĂŒber deutscher Bildschirmtristesse noch Ausnahmen. So lĂ€uft im Privatsender Channel Four nicht nur der ĂŒbliche Schund, sondern auch Progressives wie âBlack Mirrorâ, anarchistische Komödien Ă la âDerekâ oder âCardinal Burnsâ und eine Serie, deren bloĂe Beschreibung schon neugierig macht:
Nachdem sie in den Besitz des Originalmanuskripts der Comic-Novelle «Die Utopia-Experimente» gelangen, vereinbaren fĂŒnf Mitglieder eines Online-Forums ein Treffen. Nichtsahnend, dass die dĂŒstere Organisation «Das Netzwerk» ebenfalls auf der Suche nach dem Werk ist und auch nicht davor zurĂŒckschreckt, sĂ€mtliche Informanten zu beseitigen. Thriller mit Nathan Stewart-Jarrett, Alexandra Roach, Wilson Adeel Akhtar, Paul Higgins und Stephen Rea.
AnkĂŒndigung des Senders
âWo ist Jessica Hyde?â wird im ersten Teil (von sechs) bild- und tongewaltig untermalt gefragt. Wieso der Hase am Anfang der ersten beiden Folgen? Und wer sind jene skurrilen Gestalten, die auf der Suche nach dem Manuskript eine Blutspur hinterlassen? Bis zum bitteren Ende gibt es in Utopia viele Fragen und fortwĂ€hrend gute wie böse Ăberraschungen, denen es weder an PlausibilitĂ€t noch Komik mangelt. Und wenn von Komik die Rede ist, dann von dĂŒsterer, sarkastischer Komik. Niemand wird verschont, nicht der opportunistische Regierungsbeamte, nicht der zynische Politiker, nicht der rĂŒcksichtslose Konzernchef oder deren Heer von GĂŒnstlingen.
Dabei ist Utopia ausgesprochen menschlich. Eine Liebesszene entsteht so spontan wie wirklichkeitsnah und endet gleichermaĂen abrupt â frustrierend vielleicht, aber weder banal noch unglaubwĂŒrdig oder kitschig. Keiner der Beteiligten ist ein Ăbermensch, selbst TĂ€ter sind oder werden Opfer und der vielleicht gröĂte Held ist ein vierzehnjĂ€hriger AuĂenseiter, den die meisten Kinderkarriere-Eltern wohl hassen wĂŒrden.
Gewalt tritt von Anfang bis Ende in immer neuen Formen auf. Gewalt aber nicht in nervtötender Tarantino-Machart, die den Zuschauer wie in der TV-Serie âAmerican Horror Storyâ zum Flipperball zwischen Kitsch und Abscheu verdonnert oder aber als beige-braun gefĂ€rbte Scheinwirklichkeit inflationĂ€rer skandinavischer Mordschnulzen mit frustrierten Klischee-AuĂenseiterhelden, sondern Gewalt, die sich im Verlauf der Handlung immer wieder von selbst erklĂ€rt.
Wem die (gefĂŒhlt) tausendste Ermittlung im Unterprivilegierten-Millieu eines Kaffee saufenden oder Currywurst fressenden unrasierten Kommissars im Sozialarbeiter-KostĂŒm, die anderthalbstĂŒndige hysterische Mutter eines entfĂŒhrten Kindes oder die hinter zahlreichen Minderheiten kaschierte schlechteste Drehbuchvorlage der Welt noch immer nicht zu viel ist, fĂŒr den ist Utopia nichts. Allen anderen jedoch sei ein Blick auf besseres Fernsehen anempfohlen, so wie Channel Four es in FĂ€llen wie diesem ermöglicht.
Den Beteiligten war sichtlich bewusst, dass sie GroĂartiges zustande bringen wĂŒrden, Mitwirkende wie Stephen Rea, James Fox oder auch die charismatische Fiona O’Shaughnessy sind ein deutliches Statement. Im deutschen Fernsehen gab es das nicht mehr seit Rainer Erlers âDas Blaue Palaisâ. Da ist fast vier Jahrzehnte spĂ€ter die Frage berechtigt, wo zum Donnerwetter die QualitĂ€t im deutschen Fernsehen geblieben ist. Zunehmend wĂŒtend kann man sich anschlieĂend auf Utopia einlassen und stattdessen fragen: âWo ist Jessica Hyde?â
David Andel