Das osmanische Reich ist in den Köpfen mancher TĂŒrken lĂ€ngst kein abgeschlossenes Kapitel. Im Gegenteil, die Tatsache, dass sĂŒdlich der Landesgrenze dank des Dauerkriegs zwischen Diktatoren, Extremisten und fremdlĂ€ndischer MilitĂ€rinterventionen Chaos und VerwĂŒstung herrschen, wird nicht nur als Gefahr, sondern auch Gelegenheit territorialer Phantasien gesehen und ist nicht das erste Mal Anlass zur GroĂmannssucht. Ein einerseits zwar verstĂ€ndliches Wunschdenken, das sich dank NATO-BĂŒndnistreue aber andererseits allzu schnell in einen gefĂ€hrlichen Brandherd verwandeln könnte.
Der am 24. November von der TĂŒrkei abgeschossene Bomber Su-24 bewegte sich laut Angaben des russischen Verteidigungsministeriums ĂŒber syrischem Luftraum und habe sich auf dem Weg zum russischen MilitĂ€rflughafen Hmeymim in Syrien befunden. Eine Auswertung der FlugĂŒberwachungsdaten hĂ€tte eine eindeutige Nichtverletzung des tĂŒrkischen Luftraums ergeben. Die beiden Piloten der abgeschossenen Maschine konnten sich per Fallschirmabsprung retten, KapitĂ€n Konstantin Murakhtin ĂŒberlebte und wurde auĂer Landes gebracht, wohingegen Oberstleutnant Oleg Peshkov vom tĂŒrkmenischen Ultranationalisten Alparslan Ăelik getötet wurde, bei dem es sich um den Sohn des ehemaligen tĂŒrkischen BĂŒrgermeisters Ramazan Ăelik der Provinz ElĂązÄ±Ä handeln soll.
Die BeweggrĂŒnde des Abschusses bleiben verworren. So mag es zwar der Wahrheit entsprechen, dass sich die russische Maschine ĂŒber tĂŒrkischem Luftraum befand und sich möglicherweise gar verirrt hatte, doch stellte ein russischer Bomber inmitten einer kriegerischen Auseinandersetzung gegen islamistische Extremisten in Syrien fĂŒr die TĂŒrkei kaum eine unmittelbare Gefahr dar, sodass sich die Frage stellen muss, was genau die TĂŒrkei mit einem derartigen Abschuss, den angesichts der schieren russischen WaffenĂŒbermacht kaum ein Land wagen wĂŒrde, bezwecken möchte.
Es ist eine im Wortsinn explosive Mischung. Die TĂŒrkei ist einerseits politisch und regional isoliert und andererseits militĂ€risch integriert. In die EU soll sie unter keinen UmstĂ€nden â den Antrag hat sie vor 25 Jahren gestellt, im gleichen Jahr wurde ein Assoziierungsabkommen abgeschlossen â, in der NATO ist sie seit 1963 und wird schon aus geostrategischen GrĂŒnden darin verbleiben. Auf dem jĂŒngsten EU-TĂŒrkei-Gipfel in BrĂŒssel wurden an die Visafreiheit fĂŒr TĂŒrken 72 Bedingungen geknĂŒpft, was wenig ĂŒberraschend kaum Jubel im Land Mustafa Kemals aufkommen lieĂ. Ob die heutige stark in die politische Rechte abdriftende TĂŒrkei ĂŒberhaupt noch den Wunsch verspĂŒrt, EU-Mitglied zu werden, sei dahingestellt, hat gleichzeitig die Anziehungskraft jenes vorwiegend wirtschaftlichen Europakonstrukts in den vergangenen Jahren dank einseitiger EU-Ausrichtung doch stark eingebĂŒĂt, wohingegen die tĂŒrkische Sehnsucht nach mehr Territorium, politischem Mitspracherecht und wertvollen Ressourcen in den angrenzenden sĂŒdlichen LĂ€ndern groĂ und zunehmend erfĂŒllbar wie attraktiv erscheint. Der Verlustschmerz des osmanischen Reiches ist gewaltig, die Ursache dafĂŒr bekannt: die traditionelle NĂ€he zum Deutschen Reich sowie zusĂ€tzliche Territorialinteressen zog das ehemals so groĂe und bedeutende Imperium in den Ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf es alles bis auf seinen Kern verlor. Die TĂŒrken hatten den Krieg damals zwar nicht begonnen, zahlten aber das höchste Gebietsentgelt dafĂŒr. Es folgten die Jahre der Reformen AtatĂŒrks, in der die einstige Regionalmacht zu einem modernen Staat europĂ€ischer Ausrichtung umerzogen werden sollte. Anerkannt wurde dies auĂerhalb der TĂŒrkei aber nie, die TĂŒrken bestenfalls als EuropĂ€er zweiter Klasse angesehen, selbst das noch eindeutiger auĂerhalb Europas befindliche und agierende Israel hĂ€tte daher gröĂere Chancen auf einen EU-Beitritt gehabt.
Dass ausgerechnet im Bereich der Angriffs- und Verteidigungsstrategie das ansonsten so hochgelobte Motto eines Europas der Regionen unter den Tisch fallen gelassen wird und darĂŒber hinaus noch die Interessen der USA oder der TĂŒrkei gleichwertig mit jenen Deutschlands oder Luxemburgs sein sollen, wenn es um den Einsatz von Menschenleben geht, bleibt eine unerklĂ€rliche NATO-AbsurditĂ€t. Die Konsequenz jener EU-Ausgrenzung und NATO-Umarmung der TĂŒrkei wirkt sich somit erstmals in der Wirklichkeit und nicht im Planspiel extrem gefĂ€hrlich aus. Denn anstelle einer abgestimmten EU-AuĂenpolitik unter Einbeziehung tĂŒrkischer Standpunkte, lĂ€uft das Land mit einer groĂen Zahl moderner Waffen nun im Alleingang Amok, wenn es inmitten des Kampfes gegen eine wahnsinnige islamistische Internationale vorgeblich ĂŒber tĂŒrkischen Territorium fliegende russische Kampfbomber mit NATO-Waffen vom Himmel holt. Schlimmer noch, es positioniert die NATO Seite an Seite mit fundamentalistischen Kriegern und jener sehr besondere Fall einer Kooperation von Ost und West im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind droht aus dem Blickfeld zu geraten. Ein Kampf wohlgemerkt, dessen Feuer jederzeit auf weitere LĂ€nder der Region ĂŒbergreifen könnte, auch Israel. Abermals ist daher der NATO eine nicht hinzunehmende Leichtfertigkeit vorzuhalten, da sie ewig gestrig immer noch dem Kalten Krieg nachzutrauern scheint und daher die neuen und auĂerordentlich gefĂ€hrlichen Feinde schlichtweg leugnet.
Auch ist die Frage angemessen, welche Ziele die TĂŒrkei speziell in der Ăra Erdogan verfolgt. Was genau bezweckt die TĂŒrkei, wenn sie eindeutige europĂ€ische Interessen konterkariert? Denn der vorliegende Fall des völkerrechtlich legalen Einsatzes russischer MilitĂ€rs in Syrien dient der BekĂ€mpfung gemeinsamer Feinde zahlreicher LĂ€nder, daher ist diese Ă€uĂerst ungewöhnliche Konstellation ĂŒberhaupt erst möglich. Im Vergleich dazu sind Baschar al-Assad oder der Iran völlig irrelevant, zumal sich das Syrien vor dem BĂŒrgerkrieg und der Iran in den vergangenen Jahren als langsam aber sicher selbst reformierende LĂ€nder erwiesen haben. WĂ€hrend die USA in der Syrienfrage vor allem durch mangelnden Realismus glĂ€nzt, die deren irrsinniges Ziel allzu deutlich werden lĂ€sst, die Region zunĂ€chst im Chaos versinken lassen zu wollen, um dann irgendwann einmal in aller Ruhe Grenzen neu ordnen und Ressourcen abschöpfen zu können â aus der Ferne, ausschlieĂlich den eigenen Interessen folgend â, können sich Russland und Europa schon aufgrund der deutlichen NĂ€he zum IS-Brandherd einen solchen nicht nur menschlich und kulturell verachtenswerten Luxus keinesfalls leisten, die jĂŒngsten AnschlĂ€ge in Paris sind dafĂŒr der eindeutige Beweis.
Somit gehört auch der Zirkus um einen Feldzug gegen den islamistischen Fundamentalismus mit oder ohne Assad zur ĂŒblichen ideologisch-surrealen Machtkulisse der USA. WĂ€hrend die riesige Diktatur China das Land des Sternenbanners wirtschaftlich versklavt hat und von allen US-Administrationen seit Jahrzehnten unterwĂŒrfig liebkost wird, muss an Syrien als Israel-Provokateur und Iran-Alliierter unter allen UmstĂ€nden ein Exempel statuiert werden. In einem BBC-Interview vom 1. Dezember fragte Assad denn auch zurecht danach, wer denn die Ergebnisse von Verhandlungen ohne seine Mitwirkung letztlich umsetzen solle. Das ewige Gezerre zwischen AnhĂ€ngern der Achse Assad-Iran-Russland und jenen der Konstellation IS-Saudis-Sunniten, wie Uri Avnery es treffend auf den Punkt brachte, ist ein fĂŒr Europa existenziell bedrohliches BĂŒndnisspielchen. Der seit Jahrzehnten theatralisch zur Schau gestellte saudische Fundamentalismus wird nun vor unser aller Augen zum Exportschlager, spielt aber aufgrund enormer Erdölressourcen und einem engen politischen und militĂ€rischen BĂŒndnis mit den USA keine Rolle. Daher sprudeln nicht nur die Quellen des schwarzen Goldes, sondern auch jene des grĂŒnen Wahns unbehelligt weiter.
Die TĂŒrkei zeigt schon seit geraumer Zeit vermehrt beunruhigende antidemokratische Symptome. Es kann nicht angehen, dass der TĂŒrkei aufgrund deren NATO-Zugehörigkeit keine Grenzen gesetzt werden, wenn so ĂŒberdeutlich wird, wohin der Zug fĂ€hrt. Die Vorgehensweise des Recep Tayyip ErdoÄan nimmt despotische ZĂŒge an, sein Verhalten sollte sĂ€mtliche Alarmglocken in BrĂŒssel lĂ€uten lassen. ErdoÄans Tochter SĂŒmeyye kĂŒmmert sich derweil um das Wohlbefinden der IS-Terrortruppen und Schwiegersohn Berat Albayrak wurde Herr der Pipelines.
Wenn es irgendwo auf dieser Welt keiner weiteren Kolonialmacht bedarf, dann im Nahen Osten â eine seit ĂŒber hundert Jahren fortwĂ€hrend von westlichen Interessen gebeutelte Region und nicht Hinterhof von irgendwem. Sollte die TĂŒrkei mithilfe der NATO wieder zu ihren osmanischen Wurzeln des Ăbels zurĂŒckkehren wollen, dann wĂŒrde das die Situation noch weiter verschĂ€rfen und auch jene mit einbeziehen, die sich jetzt vielleicht noch als Herr der Lage wĂ€hnen.
David Andel